Es war ein Löwe. Riesig, zottig und leuchtend stand er etwa dreihundert Meter von den Reisenden entfernt und blickte zur aufgehenden Sonne. Er sang mit weit offenem Maul.
„Das ist eine schreckliche Welt", sagte die Hexe. „Wir müssen fliehen. Sofort. Bereitet den Zauber vor."
„Ich stimme Ihnen zu, werte Dame", sagte Onkel Andrew. „Ein höchst unangenehmer Ort. Völlig unzivilisiert. Wäre ich nur jünger und hätte ein Gewehr ..."
„Unsinn!" meinte der Kutscher. „Sie glauben doch wohl nicht, daß Sie den da erschießen können, oder?"
„Wer würde das denn wollen?" fragte Polly.
„Bereite den Zauber vor, alter Narr!" befahl Jadis.
„Gewiß, werte Dame", sagte Onkel Andrew verschlagen. „Die beiden Kinder müssen mich berühren. Steck sofort den Ring an, Digory, der uns nach Hause bringt!" Er plante, die Hexe hier zurückzulassen.
„So? Ringe sind es also?" rief Jadis. Sie hätte bestimmt sofort in Digorys Tasche gegriffen, aber der packte Polly am Arm und schrie:
„Seht euch vor! Wenn es einer von euch wagen sollte, auch nur einen Schritt näher zu kommen, dann verschwinden wir alle beide und lassen euch für immer hier zurück. Ja. Ich habe einen Ring in der Tasche, der mich und Polly nach Hause bringen kann. Seht! Ich brauche ihn nur anzufassen. Also bleibt uns vom Hals. Um Sie, Herr Kutscher, und um das Pferd täte es mir ja wirklich leid, aber ich habe keine andere Wahl. Und was euch beide betrifft" – er schaute zu seinem Onkel und zur Königin hinüber –, „ihr seid ja alle beide Zauberer, also müßtet ihr doch Freude daran haben, hier miteinander zu leben."
„Haltet den Mund alle miteinander!" sagte der Kutscher. „Ich will mir die Musik anhören."
Denn nun hatte sich das Lied verändert.
Der Löwe schritt auf und ab und sang dabei sein neues Lied. Es war leiser und beschwingter als jenes, mit dem er Sterne und Sonne ins Leben gerufen hatte – sozusagen eine sanft dahinplätschernde Klangfolge. Während er singend umherschritt, begann im Tal das Gras zu grünen. Um den Löwen herum fing es an; dann breitete es sich ringsumher aus wie ein überquellender Teich; wie in Wogen wuchs es an den Hängen empor, es kroch auf die Berge in der Ferne und legte etwas Sanftes über diese junge Welt. Raschelnd strich der sanfte Wind durch die Halme. Kurz darauf begann alles mögliche zu wachsen. Die höhergelegenen Hänge verdunkelten sich unter Heidekraut, das Tal fleckte sich mit groben, stachligen Gewächsen. Erst beim Näherkommen sah Digory, was das für Pflanzen waren. Kleine stachlige Gebilde waren es, die nach allen Seiten Arme reckten, auf denen es zu grünen begann. Sie wuchsen ungefähr einen Fingerbreit pro Sekunde. Rund um Digory herum sprießten Dutzende von diesen Gewächsen. Was das war, entdeckte er erst, als sie fast so hoch standen wie er selbst. „Bäume!" rief er.
Unangenehm war nur, daß sie all das nicht in Ruhe betrachten konnten. Gerade als Digory „Bäume!" rief, mußte er nämlich einen Satz zur Seite machen, weil Onkel Andrew wieder angeschlichen kam und ihm den Ring aus der Tasche stibitzen wollte. Von seinem Ring hätte Onkel Andrew zwar nicht viel gehabt, denn er wollte Digory in die rechte Hosentasche greifen, weil er ja immer noch meinte, die grünen Ringe seien es, die nach Hause führten. Aber natürlich wollte Digory alle beide Ringe behalten.
„Halt!" kreischte die Hexe. „Zurück! Noch weiter! Wenn sich einer von euch weiter als zehn Schritte den Kindern nähert, dann schlage ich ihm den Schädel ein!" Dabei schwang sie die Eisenstange, die sie von der Laterne abgerissen hatte. Allen war klar, daß sie ihr Ziel ganz bestimmt nicht verfehlen würde.
„So!" sagte sie dann. „Du wolltest also heimlich mit dem Jungen in deine Welt verschwinden und mich hier zurücklassen!"
Jetzt siegte Onkel Andrews Zorn endlich über seine Furcht. „Ja, werte Dame, das hatte ich vor", sagte er. „Daran besteht kein Zweifel. Und das wäre auch mein gutes Recht, so beschämend und abscheulich, wie Sie mich behandelt haben. Ich habe mein Bestes gegeben, ihnen soweit entgegenzukommen, wie es in meiner Macht stand. Und wie wurde mir das gedankt? Sie haben einen höchst ehrwürdigen Juwelier bestohlen – jawohl, bestohlen! Sie haben mich dazu gezwungen, Sie zu einem irrsinnig teuren, ja verschwenderischen Essen einzuladen, wes – halb ich meine Taschenuhr mit Kette verpfänden mußte! Ich darf Ihnen mitteilen, werte Dame, daß es unter den Mitgliedern meiner Familie nicht üblich ist, Pfandleiher in Anspruch zu nehmen – mit Ausnahme meines Cousins Edward, aber der war ja auch bei der Kavallerie. Im Verlauf dieser schwerverdaulichen Mahlzeit, die mir noch immer im Magen liegt, hat Ihr Verhalten und Ihre Konversation auf eine sehr unangenehme Art und Weise dazu geführt, daß alle Anwesenden auf uns aufmerksam wurden Ich fühle mich öffentlich entehrt, und in diesem Restaurant kann ich mich nie mehr blicken lassen. Des weiteren haben Sie Polizisten angegriffen, Sie haben gestohlen,..."
„Schluß jetzt, alter Knabe, Schluß jetzt!" sagte der Kutscher. „Sie sollten zusehen und zuhören, statt zu quasseln."
Tatsächlich gab es eine ganze Menge zu sehen und zu hören. Der Baum, den Digory als erstes bemerkt hatte, war zu einer voll ausgewachsenen Birke geworden, deren Zweige sanft über seinem Kopf schwankten, und überall wuchs kühles, grünes, mit Gänseblümchen und Butterblumen getupftes Gras. Ein Stückchen weiter am Flußufer standen Wiesen; auf der anderen Seite wucherten blühende Fliedersträucher, wilde Rosen und Rhododendronbüsche. Das Pferd war damit beschäftigt, köstlich saftige Grasbüschel zu rupfen.
Die ganze Zeit über schritt der Löwe majestätisch auf und ab und sang dabei. Ein klein wenig beunruhigend war, daß er jedesmal ein Stückchen näher kam, wenn er sich wieder umdrehte. Von Sekunde zu Sekunde fand Polly das Lied interessanter, denn langsam kam es ihr vor, als bestünde ein Zusammenhang zwischen dem Lied und dem, was um sie herum geschah. Als in der Nähe an einem Hang eine Reihe dunkler Fichten sproß, erkannte sie, daß dies mit einer Reihe von dunklen, langgezogenen Tönen zusammenhängen mußte, die der Löwe kurz zuvor gesungen hatte. Und als er überwechselte zu einer lebhafteren Klangfolge, war Polly nicht weiter überrascht, als sie entdeckte, wie ringsumher plötzlich Schlüsselblumen zu wachsen begannen. Sie wurde von einer unsagbaren Erregung ergriffen, und ihr wurde klar, daß all diese Dinge im Kopf des Löwen entstanden, wie sie es ausdrückte. Wenn man dem Lied lauschte, dann konnte man hören, welche Pflanzen er gerade entstehen ließ. Schaute man sich um, dann konnte man sie auch schon sehen. So aufregend war es, daß Polly gar keine Zeit hatte, Angst zu spüren. Digory und der Kutscher allerdings wurden ganz gegen ihren Willen ein wenig nervös, weil der Löwe nach jeder Wendung ein wenig näher kam. Onkel Andrew klapperte vor Angst mit den Zähnen, aber er konnte nicht weglaufen, weil seine Knie so schrecklich schlotterten.
Plötzlich ging die Hexe tollkühn ein paar Schritte auf den Löwen zu, der langsam, ständig singend, angetrottet kam, bis er nur noch etwas mehr als zehn Meter entfernt war. Nun hob Jadis den Arm und schleuderte ihm die Eisenstange an den Kopf.
Keiner hätte ihn auf diese Entfernung verfehlt, am allerwenigsten Jadis. Die Stange traf den Löwen genau zwischen die Augen, prallte ab und fiel mit einem dumpfen Schlag ins Gras. Doch das hielt den Löwen nicht auf. Er ging weder langsamer noch schneller als zuvor, und man konnte ihm nicht ansehen, ob er die Stange überhaupt gespürt hatte. Obwohl seine Tatzen nicht zu hören waren, erbebte doch die Erde.
Die Hexe kreischte auf, rannte davon und war schon kurze Zeit später zwischen den Bäumen verschwunden. Onkel Andrew drehte sich um und wollte hinterherrennen, doch er stolperte über eine Wurzel und fiel platt auf die Nase. Er landete in einem Bächlein, das sich hinunterschlängelte zum Fluß. Die Kinder konnten sich nicht rühren, aber sie wußten ohnehin nicht so recht, ob sie sich überhaupt rühren wollten. Der Löwe schenkte ihnen keinen Blick. Er hatte sein großes Maul weit aufgerissen, doch nicht um zu brüllen, nein, um zu singen. So nah ging er an ihnen vorüber, daß sie seine Mähne hätten berühren können. Sie hatten schreckliche Angst, er könne sich umdrehen und sie ansehen, doch andererseits wünschten sie sich komischerweise, er möge es tun. Doch sie hätten geradesogut unsichtbar und unriechbar sein können, so wenig Beachtung schenkte er ihnen. Er ging an ihnen vorüber, wandte sich ein Stückchen weiter wieder um, ging noch einmal an ihnen vorbei und schritt dann weiter in Richtung Osten.
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