Sekunden später öffnete sich die Gasse zu einer breiten Straße und vor ihnen ragte die imposante Silhouette des Instituts aus der Dunkelheit auf. Die beiden stürmten durch den Eingang und Jem gab Tessas Hand frei, wirbelte herum und verriegelte das Tor von innen. Genau in dem Moment, als die Schlösser zuschnappten, erreichten die Kreaturen das Tor und krachten unter enormem Getöse gegen das Eisengitter — wie aufgezogene Spielzeugfiguren, die sich nicht mehr bremsen konnten.
Mit weit aufgerissenen Augen wich Tessa langsam in Richtung Institut zurück. Die Klockwerk-Kreaturen pressten sich gegen das Tor und ihre Hände griffen durch die Öffnungen im Gitter. Panisch schaute Tessa sich um. Jem stand neben ihr; er war kreidebleich und hielt sich die Seite. Als Tessa nach seiner Hand greifen wollte, trat er einen Schritt zurück.
»Tessa.« Seine Stimme klang zittrig. »Bring dich in Sicherheit. Du musst ins Institut. Lauf!«
»Bist du verletzt? Jem, bist du verletzt?«
»Nein«, erwiderte er mit erstickter Stimme.
Ein rasselndes Geräusch, das vom Tor herüberschallte, ließ Tessa aufschauen. Einer der KlockwerkMänner hatte die Hände durch eine Öffnung im Gitterwerk geschoben und zerrte an der Eisenkette, die das Tor verschloss. Mit einer Mischung aus Faszination und Entsetzen sah sie, wie der Mann mit solcher Kraft an den Kettengliedern zog, dass sich die Haut von seinen Fingern löste und die Metallhände darunter zum Vorschein kamen. Unter seinem unerbittlichen Griff hatten die Kettenglieder bereits begonnen, sich zu verbiegen, und es war nur noch eine Frage von Minuten, bis die schwere Eisenkette nachgeben und brechen würde.
Tessa packte Jem am Arm. Seine Haut fühlte sich selbst durch die Kleidung hindurch fiebrig heiß an.
»Komm. Komm schnell.«
Stöhnend ließ Jem sich von ihr zum Portal der Kirche ziehen, wobei er mehrfach strauchelte und sich schwer keuchend auf sie stützen musste. Gemeinsam torkelten sie die Steintreppe hinauf, doch als sie die oberste Stufe erreichten, entglitt Jem Tessas Griff. Mit schmerzverzerrtem Gesicht krümmte er sich zusammen und schlug mit den Knien auf den Boden auf, während heftige Hustenanfälle seinen Körper peinigten.
Im nächsten Moment flog das Tor krachend auf und die Klockwerk-Kreaturen ergossen sich in den Innenhof, angeführt von dem Mann, der die Kette zerrissen hatte und dessen gehäutete Hände im Mondlicht gespenstisch glänzten.
Tessa erinnerte sich an Wills Worte — »... die Eingangstür kann nur von jemandem geöffnet werden, der Schattenjägerblut besitzt« — und griff hektisch zum Klingelzug. Aber obwohl sie mehrfach mit aller Kraft daran zog, konnte sie auf der anderen Seite des schweren Portals keinen Gong hören. Verzweifelt wirbelte sie zu Jem herum, der noch immer auf dem Boden kniete. »Jem! Jem, bitte, du musst die Tür öffnen ...«
Mühsam hob Jem den Kopf. Seine Augen waren weit aufgerissen, aber hatten jede Farbe verloren: Sie schimmerten durchgehend weiß, wie Murmeln. Tessa konnte sehen, wie sich das Mondlicht darin spiegelte.
»Jem!«
Er versuchte, sich aufzurappeln, doch seine Knie gaben nach und er brach erneut zusammen. Blut lief aus seinen Mundwinkeln und der Spazierstock entglitt seiner Hand und rollte Tessa fast bis vor die Füße. Inzwischen hatten die Kreaturen den Fuß der Treppe erreicht und kamen unter Leitung des Mannes mit den gehäuteten Händen leicht torkelnd die Stufen hinauf. Panisch warf Tessa sich gegen die Institutstür und hämmerte mit den Fäusten gegen das Eichenholz. Sie konnte den hohlen Widerhall ihrer Schläge auf der anderen Seite hören und war der Verzweiflung nahe:
Das Institut war so riesig und es blieb ihnen so wenig Zeit.
Schließlich gab sie auf, drehte sich von der Tür fort und musste mit Entsetzen feststellen, dass der Anführer der Kreaturen Jem inzwischen erreicht hatte. Er stand über ihn gebeugt, die glänzenden Metallhände tief in die Brust des Schattenjägers getaucht. Mit einem wütenden Aufschrei schnappte Tessa sich Jems Spazierstock und schwang ihn wild hin und her. »Lass ihn in Ruhe!«, brüllte sie. »Verschwinde!«
Die Kreatur richtete sich auf und im Licht des Mondes konnte Tessa zum ersten Mal sein Gesicht deutlich sehen: Es war glatt, fast ohne Merkmale. Dort, wo Mund und Augen sich hätten befinden sollen, waren nur leichte Vertiefungen zu erkennen und die Nase fehlte gänzlich. Der Mann hob die gehäuteten Hände, von denen Jems Blut herabtropfte, während Jem in einer dunkel schimmernden Lache vollkommen reglos dalag. Als Tessa entsetzt auf die Szenerie starrte, wackelte der Klockwerk-Mann mit blutigen Fingern in ihre Richtung, als würde er ihr zuwinken — dann machte er auf dem Absatz kehrt, stürmte die Stufen hinunter, in einer Mischung aus Springen und Krabbeln, fast wie eine Spinne, und verschwand durch das Tor in die Dunkelheit.
Tessa wollte Jem zu Hilfe kommen, doch die anderen Automaten versperrten ihr blitzschnell den Weg. Wie ihrem Anführer fehlten auch ihnen jegliche Gesichtszüge — eine Truppe gesichtsloser Krieger, die den Eindruck erweckte, als hätte ihrem Schöpfer die Zeit gefehlt, sie vollends fertigzustellen.
Einer der Klockwerk-Männer streckte sirrend und klickend die Metallhände nach Tessa aus. Fast blindlings schwang sie den Spazierstock durch die Luft, traf die Kreatur am Kopf und spürte den heftigen Aufschlag von Holz auf Metall, die intensiven Vibrationen in ihrem Arm. Der Mann taumelte einen Moment zur Seite, fing sich aber sofort wieder und sein Kopf schwang blitzschnell in seine ursprüngliche Position zurück. Tessa holte erneut aus und traf ihn dieses Mal an der Schulter. Der Mann torkelte, doch andere Hände zuckten nach vorn, schlossen sich um den Stock und rissen ihn ihr mit solcher Gewalt aus den Fingern, dass die Haut ihrer Handfläche brannte. Als der Automat den Stab mit enormer Kraft über seinem Knie zerbrach, musste Tessa unwillkürlich an Mirandas schmerzhaft harten Griff zurückdenken, mit dem sie sie immer am Handgelenk gepackt hatte.
Das Holz zerbarst mit einem grässlichen Geräusch. Tessa wirbelte herum, um zu fliehen, aber unerbittliche Metallhände packten sie an den Schultern und rissen sie zurück. Unter Aufbietung all ihrer Kräfte schlug Tessa wild um sich ... als die Tür des Instituts weit aufflog. Das herausströmende Licht blendete sie einen Moment und sie konnte nur die Konturen dunkler Gestalten erkennen, die aus dem Inneren der Kirche herausstürmten. Irgendetwas flog zischend an ihrem Kopf vorbei und streifte sie an der Wange. Dann ertönte das knirschende Geräusch von Metall auf Metall; einen Sekundenbruchteil später erschlaffte der Griff des Klockwerk-Mannes um ihren Hals und Tessa fiel keuchend und hustend auf die Knie. Als sie aufschaute, sah sie, dass Charlotte über ihr stand, mit bleichem, grimmigem Gesicht und einer scharfen Metallscheibe in der Hand. Eine weitere, identische Scheibe steckte tief in der Brust des Mannes, der sie gewürgt hatte und der nun zuckend und zappelnd wie ein defektes Spielzeug kreisförmig über den Boden robbte. Blaue Funken stoben aus der tiefen Kerbe in seinem Hals.
Die restlichen Klockwerk-Kreaturen wirbelten und torkelten umher, als die Schattenjäger sich auf sie stürzten: Henry schleuderte seine leuchtende Seraphklinge in einem hohen Bogen durch die Luft und schlitzte einem der Automaten die Brust auf, woraufhin dieser pfeifend und zuckend in der Dunkelheit verschwand. Neben Henry schwang Will eine Waffe, die an eine Art Sense erinnerte, und ließ sie wieder und wieder mit ungeheurer Wucht auf eine andere Kreatur herabsausen, bis diese zerhackt vor ihm lag und nur noch blaue Funken in alle Richtungen schossen. Charlotte sprang die Stufen hinunter und schleuderte gleichzeitig ihre zweite Metallscheibe, die einem der Metallmonster mit einem grässlichen Geräusch den Schädel spaltete. Der Mann brach auf der Stelle zusammen und schickte einen Sprühregen aus schwarzem Öl und blauen Funken in den Himmel. Plötzlich schienen sich die beiden letzten Kreaturen eines Besseren zu besinnen: Sie machten auf dem Absatz kehrt und sprangen durch den Innenhof in Richtung Tor, dicht gefolgt von Henry und Charlotte. Will hingegen ließ seine Waffe fallen, wirbelte herum und stürmte zur Steintreppe. »Was ist passiert?«, rief er Tessa entgegen, die ihn jedoch nur stumm anstarrte, zu benommen, um seine Frage zu beantworten.
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