Entschlossen schüttelte Charlotte den Kopf. »Nein, Tessa. Du hast doch gehört, was de Quincey gestern Abend gesagt hat: Er hasst alle Schattenjäger. Und er würde den Rat so oder so angreifen. Aber wenn wir dich ihm auslieferten, würden wir ihm möglicherweise nur eine wertvolle Waffe in die Hände spielen.« Charlotte überlegte einen Moment und schaute dann zu Henry: »Ich frage mich, warum er so lange gewartet hat. Warum hat er Tessa nicht zu holen versucht, als sie mit Jessie in der Stadt war? Im Gegensatz zu Dämonen können diese Klockwerk-Kreaturen sich doch auch tagsüber im Freien bewegen.«
»Sie können schon — allerdings nicht, ohne dabei die breite Öffentlichkeit in Angst und Schrecken zu versetzen«, erklärte Henry. »Noch unterscheiden sie sich viel zu sehr von gewöhnlichen Bürgern.« Er nahm ein glänzendes Zahnrad aus der Westentasche und hielt es hoch. »Ich habe mir die Überreste der Automaten draußen im Innenhof einmal genauer angesehen. Diejenigen, die de Quincey hinter Tessa hergeschickt hat, lassen sich mit dem Modell unten in meinem Labor nicht vergleichen: Sie sind ausgeklügelter, aus härterem Metall gefertigt und mit besseren Gelenkverbindungen ausgestattet. Irgendjemand hat an den Entwürfen gearbeitet, die Will bei de Quincey gefunden hat — sie wurden überarbeitet und verbessert. Denn die Kreaturen sind nun noch schneller und noch gefährlicher.«
Aber auf welche Weise verbessert? »Da war doch eine Zauberformel«, warf Tessa rasch ein, »auf der Entwurfszeichnung. Magnus hat sie entziffert ...«
»Die Verquickungsformel. Dazu gedacht, die Energie eines Dämons mit einem Automaten zu verknüpfen«, bestätigte Charlotte und schaute fragend zu Henry. »Hat de Quincey . .?«
»Damit bereits Erfolg gehabt?«, beendete Henry ihren Satz und schüttelte den Kopf. »Nein. Diese Kreaturen sind so konstruiert, dass sie einem bestimmten Muster folgen, wie Spieluhren. Aber sie sind nicht mit Leben erfüllt — sie verfügen weder über Intelligenz noch über einen eigenen Willen. An ihnen ist absolut nichts Dämonisches.«
Erleichtert atmete Charlotte auf. »Wir müssen de Quincey finden, bevor er sein Ziel erreicht. Die Klockwerk-Männer sind bereits im jetzigen Zustand schwer zu töten. Weiß der Himmel, wie viele dieser Kreaturen er inzwischen erschaffen hat — und um wie vieles schwieriger es werden könnte, ihrer Herr zu werden, wenn sie erst einmal über die Gerissenheit von Dämonen verfügen.«
»Ein Heer, das weder im Himmel noch in der Hölle erwuchs«, murmelte Tessa leise.
»Genau«, bestätigte Henry. »De Quincey muss gefunden und aufgehalten werden. Und in der Zwischenzeit solltest du, Tessa, im Institut bleiben. Nicht weil wir dich hier als Gefangene einsperren wollen, sondern weil es zu deiner eigenen Sicherheit wäre, wenn du das Gebäude nicht verlässt.«
»Aber wie lange ...«, setzte Tessa an und verstummte, als sie sah, wie sich Sophies Gesichtsausdruck veränderte. Das Mädchen starrte mit weit aufgerissenen Augen über Tessas Schulter hinweg zur Tür. Als Tessa ihrem Blick folgte, entdeckte sie Will. Der junge Schattenjäger stand in der Tür zum Salon; ein breiter Streifen Blut zog sich wie Farbe quer über sein weißes Hemd. Mit reglosem, fast maskenhaftem Gesicht fixierte er Tessa, und als sich ihre Blicke quer durch den Raum trafen, spürte sie, wie ihr Herz einen Satz machte.
»Er will dich sprechen«, sagte Will nur.
Einen Moment lang herrschte absolute Stille im Raum, da sämtliche Augen auf ihn gerichtet waren. Wills intensiver Blick hatte etwas Beunruhigendes an sich — sein Schweigen glich fast einer bedrohlichen Spannung. Tessa schaute zu Sophie, die sich angsterfüllt an die Kehle griff und mit den Fingern nervös am Kragen nestelte.
»Will«, brach Charlotte schließlich die Stille. »Hast du Jem gemeint? Hat sich sein Zustand verbessert?«
»Er ist wach und kann reden«, erwiderte Will lediglich. Sein Blick wanderte kurz zu Sophie, die sofort zu Boden schaute, als wollte sie den Ausdruck auf ihrem Gesicht kaschieren. »Und nun will er Tessa sprechen.«
»Aber ...«, setzte Tessa an und schaute zu Charlotte, die beunruhigt wirkte. »Geht es ihm denn gut? Ist er dazu überhaupt in der Verfassung?«
Wills Gesichtsausdruck blieb unverändert. »Er will dich sprechen«, wiederholte er und betonte dabei jedes einzelne Wort. »Also wirst du jetzt aufstehen und mit mir kommen und mit ihm reden. Hast du mich verstanden?«
»Will!«, fuhr Charlotte scharf auf, doch Tessa hatte sich bereits erhoben und strich sich den verknitterten Rock glatt. Charlotte warf ihr einen besorgten Blick zu, schwieg aber.
Als Tessa Will folgte, der sie eisig schweigend durch den Korridor führte, sah sie im zuckenden Schein der Elbenlicht-Wandleuchter, dass sein Hemd nicht nur mit Blut, sondern auch mit schwarz schimmernden Ölflecken gesprenkelt war, die sich bis hinauf zu seiner Wange erstreckten. Seine Haare wirkten wirr und Tessa konnte die Anspannung an seiner Kinnpartie ablesen. Sie fragte sich, ob er seit dem Morgengrauen, als sie ihn auf dem Speicher zurückgelassen hatte, überhaupt eine Minute geschlafen hatte, und überlegte, ob sie ihn danach fragen sollte. Doch alles an ihm — seine Haltung, sein Schweigen, seine kerzengeraden Schultern — verriet ihr, dass ihr Interesse nicht willkommen wäre.
Endlich erreichten sie die Tür von Jems Zimmer, die Will aufdrückte und für Tessa aufhielt. Der Raum wurde nur vom fahlen Mondschein und einem Elbenlicht in einem Kerzenständer auf Jems Nachttisch erhellt. Jem lag halb zugedeckt in dem riesigen Himmelbett. Er war so weiß wie sein Nachthemd und die Lider seiner geschlossenen Augen schimmerten bläulich. Am Bettrahmen lehnte sein Spazierstock, der auf wundersame Weise repariert schien und wieder völlig intakt war — der Jadeknauf funkelte wie neu. Als Jem das Quietschen der Tür hörte, drehte er das Gesicht in die Richtung, hielt die Augen aber geschlossen. »Will?«, fragte er mit matter Stimme. In dem Moment tat Will etwas, das Tessa sehr verblüffte: Er zwang sich zu einem Lächeln und erwiderte in halbwegs heiterem Ton: »Ich habe sie hergebracht, genau wie du es wolltest.«
Ruckartig öffnete Jem die Lider und Tessa stellte erleichtert fest, dass die Farbe wieder in seine Augen zurückgekehrt war. Dennoch wirkten sie in seinem bleichen Gesicht wie tiefe dunkle Höhlen. »Tessa«, brachte er angestrengt hervor, »es tut mir so leid.«
Fragend schaute Tessa zu Will; sie war sich selbst nicht sicher, ob sie damit um seine Erlaubnis oder seine Hilfe bat. Doch er schaute stur geradeaus — ganz offensichtlich wollte er ihr nicht helfen. Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, eilte Tessa durch das Zimmer und ließ sich in einem Sessel neben Jems Bett nieder. »Jem«, sagte sie mit gedämpfter Stimme,
»es gibt nichts, was dir leidtun oder wofür du dich schämen müsstest. Ich sollte mich eigentlich bei dir entschuldigen. Du hast überhaupt nichts falsch gemacht. Diese Klockwerk-Kreaturen hatten es auf mich abgesehen, nicht auf dich.« Sanft strich sie über die Bettdecke — wie gern hätte sie seine Hand berührt, wagte es aber nicht. »Wenn ich nicht gewesen wäre, hättest du niemals derartig verwundet werden können.«
»Verwundet«, stieß Jem keuchend, fast angewidert hervor. »Ich war nicht verwundet.«
»James.« Wills Stimme enthielt einen warnenden Unterton.
»Sie muss es erfahren, William. Sonst denkt sie noch, dass das alles ihre Schuld gewesen sei.«
»Du warst krank«, widersprach Will, ohne Tessa dabei anzusehen. »Daran trägt niemand die Schuld.«
Er schwieg einen Augenblick und fuhr dann fort: »Ich denke einfach nur, dass du vorsichtig sein solltest. Du bist noch immer nicht wohlauf. Reden würde dich bestimmt zusätzlich erschöpfen.«
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