In der darauffolgenden Nacht schlief Tessa sehr unruhig und erwachte immer wieder aus einem Albtraum, in dem die Klockwerk-Kreaturen sie verfolgten und mit langen, dürren Metallhänden nach ihr griffen, um ihr die Haut vom Körper zu reißen. Nach einer Weile veränderte sich die Szenerie in einen Traum, der Jem schlafend in einem Bett zeigte, während silbernes Pulver vom Himmel auf ihn herabrieselte und die Bettdecke in Brand steckte, bis das gesamte Bett in Flammen stand. Doch trotz Tessas warnender Rufe schlief Jem ruhig weiter.
Und schließlich träumte sie von Will, der auf dem höchsten Punkt der Kuppel von St. Paul’s stand, allein im Schein eines sehr bleichen Mondes. Er trug einen schwarzen Gehrock und die Runenmale auf seiner Haut waren im schimmernden Mondlicht deutlich zu erkennen. Schweigend schaute er hinab auf London, wie ein gefallener Engel, der gelobt hat, die Stadt vor ihren eigenen schlimmsten Albträumen zu bewahren — während London unter ihm ungerührt weiterschlief, gleichgültig und ahnungslos.
Plötzlich rüttelte eine Hand heftig an Tessas Schulter und riss sie aus dem Schlaf. Dann drang eine Stimme an ihr Ohr: »Miss!«, rief Sophie angespannt.
»Miss Gray, Sie müssen aufwachen. Es geht um Ihren Bruder.«
Ruckartig setzte Tessa sich auf, wobei mehrere Kissen aus dem Bett purzelten. Das fahle Licht der Nachmittagssonne erhellte den Raum und fiel auf Sophies besorgte Miene. »Nate ist aufgewacht?«, fragte Tessa, noch leicht benommen. »Geht es ihm gut?«
»Ja ich meine, nein. Das heißt, ich weiß es nicht, Miss«, antwortete Sophie mit stockender Stimme. »Er ist verschwunden.«
16
Die Verquickungsformel
Und einmal und zwei rollt der Würfel so frei,
Kavaliere, das gibt ein Gelach!
Aber zeigt, was erzielt, wer in Sünden verspielt,
In dem heimlichen Hause der Schmach!
Oscar Wilde, »Die Ballade vom Zuchthaus zu Reading«
»Jessamine! Jessamine, was geht hier vor? Wo ist Nate?«
Die junge Schattenjägerin, die direkt vor Nates Zimmertür stand, wirbelte herum und sah Tessa, die durch den Flur auf sie zugestürmt kam. Jessamines rot geränderte Augen blitzten wütend und aus ihrer sonst so sorgfältig hochgesteckten Frisur hatten sich im Nacken mehrere blonde Strähnen gelöst. »Ich weiß es nicht«, schnappte sie. »Ich bin im Sessel neben seinem Bett eingeschlafen, und als ich aufwachte, war er verschwunden — einfach verschwunden!« Tadelnd kniff sie die Augen zu Schlitzen. »Du meine Güte, du siehst ja grauenhaft aus!«
Tessa schaute an sich herab. Sie hatte sich nicht die Zeit genommen, Reifrock oder gar Schuhe anzuziehen, sondern einfach nur ein Kleid übergeworfen und die nackten Füße in die Hausschuhe geschoben. Ihre Haare fielen lose um die Schultern und sie konnte sich durchaus vorstellen, dass ihr Anblick an die Geistesgestörte erinnern mochte, die Mr Rochester in Charlotte Brontes Roman Jane Eyre auf dem Speicher eingeschlossen hielt. »Nate kann nicht sehr weit gekommen sein, jedenfalls nicht in seinem Zustand«, stellte sie sachlich fest. »Hat sich schon irgendjemand auf die Suche nach ihm gemacht?«
Entrüstet warf Jessamine die Hände in die Luft.
»Alle haben sich auf die Suche nach ihm gemacht —
Will, Charlotte, Henry, Thomas, sogar Agatha. Aber ich darf doch wohl annehmen, du erwartest nicht von uns, dass wir den armen Jem aus dem Bett zerren und ihn ebenfalls nach deinem Bruder Ausschau halten lassen, oder?«
Tessa schüttelte den Kopf. »Also wirklich, Jessamine ...«, setzte sie an, unterbrach sich dann aber und drehte der Schattenjägerin den Rücken zu. »Gut, dann werde ich ebenfalls nach ihm suchen. Du kannst ja hierbleiben, wenn du willst.«
»Und ob ich will!«, erwiderte Jessamine und warf die Haare in den Nacken.
Während Tessa durch den Korridor davonmarschierte, überschlugen sich ihre Gedanken förmlich:
Wohin, um alles in der Welt, konnte Nate sich gewandt haben? Hatte er vielleicht Halluzinationen gehabt und war im Fieberwahn aus dem Bett geklettert, um sie zu suchen? Der Gedanke legte sich wie eine kalte Hand um ihr Herz. Das Institut glich einem Labyrinth, überlegte sie, während sie zum wiederholten Mal um eine Ecke bog, hinter der sich ein weiterer, von Wandteppichen gesäumter Korridor erstreckte. Wenn sie sich schon kaum darin zurechtfand, wie sollte Nate erst ...
»Miss Gray?«
Tessa drehte sich um und sah Thomas, der aus einer der endlosen Türen getreten war. Statt einer Weste trug er nur ein Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln; seine Haare standen in alle Richtungen vom Kopf ab und seine braunen Augen schauten sehr ernst. Tessa spürte, wie sich ihr Magen verkrampfte. Oh, Gott, er hat schlechte Nachrichten. »Ja, Thomas?«
»Ich hab Ihren Bruder gefunden«, erklärte Thomas zu Tessas Überraschung.
»Wirklich? Aber wo war er denn?«
»Im Salon. Hatte sich 'ne Art Versteck gesucht, hinter den Vorhängen«, sprudelte Thomas hastig hervor und zog eine verlegene Miene. »Kaum hat er mich gesehen, ist er auch schon durchgedreht und hat geschrien und geflucht. Und dann hat er versucht, an mir vorbeizukommen, und ich musste ihm fast eins überbraten, damit er endlich Ruhe gab ...« Als er Tessas verständnislosen Blick sah, hielt er einen Moment inne und räusperte sich dann. »Das soll heißen: Ich fürchte, ich habe ihm möglicherweise einen großen Schrecken eingejagt, Miss.«
Bestürzt schlug Tessa eine Hand vor den Mund.
»Oje ... Aber es geht ihm gut?«
Es hatte den Anschein, dass Thomas nicht ganz wusste, wohin er schauen sollte. Offenbar war es ihm peinlich, dass er Nate hinter Charlottes Vorhängen kauernd vorgefunden hatte, dachte Tessa und spürte eine Woge der Empörung aufkommen. Schließlich war ihr Bruder kein Schattenjäger — er hatte nicht von Kindesbeinen an gelernt, irgendwelche Monster zu töten und ständig sein Leben zu riskieren. Da war es doch nur natürlich, dass er sich zu Tode fürchtete. Und wahrscheinlich litt er obendrein unter Fieberwahn und Halluzinationen. »Ich sollte besser zu ihm gehen. Aber nur ich allein, hast du verstanden? Vermutlich muss er einfach nur ein vertrautes Gesicht sehen«, sagte Tessa kühl.
Thomas wirkte erleichtert. »Ja, Miss. Ich warte hier draußen — allein. Geben Sie mir einfach Bescheid, wenn ich die anderen herbeiholen soll.«
Tessa nickte, schob sich an Thomas vorbei und drückte die Tür auf. Im Salon war es dämmrig; durch die hohen Fenster fiel nur das graue Licht des Nachmittagshimmels. Die Sofas und Sessel, die über den halbdunklen Raum verteilt waren, wirkten wie kauernde, zum Sprung bereite Kreaturen. Nate saß in einem der ausladenden Sessel vor dem Kamin. Offenbar hatte er die blutbefleckten Kleidungsstücke gefunden, die er bei de Quincey getragen hatte, und wieder übergestreift. Seine Füße waren nackt. Er hatte die Ellbogen auf die Knie gestützt, sein Gesicht in die Hände gelegt und wirkte zutiefst unglücklich.
»Nate?«, fragte Tessa leise.
Sofort schaute er auf, sprang aus dem Sessel und ein Ausdruck unglaublicher Freude breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Tessie!«
Vor Erleichterung stieß Tessa einen kleinen Schrei aus. Dann eilte sie quer durch den Raum, schlang die Arme um ihren Bruder und drückte ihn fest an sich. Sie hörte, wie er schmerzhaft aufstöhnte, doch dann schloss auch er sie in die Arme, und einen kurzen Moment fühlte Tessa sich wieder in die kleine Küche in New York zurückversetzt — umgeben vom köstlichen Duft warmen Gebäcks und dem leisen Lachen ihrer Tante, die sie und Nate gutmütig tadelte, weil sie beide zu viel Lärm machten.
Nate löste sich als Erster aus der Umarmung und betrachtete seine Schwester von Kopf bis Fuß. »Du meine Güte, Tessie, du siehst so verändert aus ...«
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