Ein Schauer durchzuckte Tessas Körper. »Wie meinst du das?« Nachdenklich, fast geistesabwesend tätschelte er ihre Wange. »Älter«, sagte er schließlich.
»Dünner. Als ich aus New York fortging, warst du ein kleines, pausbäckiges Mädchen, stimmt’s? Oder habe ich dich vielleicht nur so in Erinnerung?«
Während Tessa ihm versicherte, dass sie immer noch dieselbe kleine Schwester war, die er immer gekannt hatte, beschäftigte sich ihr Geist bereits mit einer anderen Frage. Besorgt musterte sie ihren Bruder:
Er wirkte zwar nicht mehr so aschfahl wie zuvor, war aber noch immer ziemlich blass und die Blutergüsse im Gesicht und am Hals schillerten in allen Farben.
»Nate ...«
»Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht«, beruhigte er sie, als er die Sorge in ihren Augen bemerkte.
»Doch, das ist es sehr wohl. Du solltest im Bett liegen und dich ausruhen«, widersprach Tessa. »Was, um Himmels willen, tust du hier?«
»Ich hab versucht, dich zu finden — schließlich wusste ich doch, dass du hier irgendwo sein musstest. Ich hab dich gesehen, bevor mich dieser alte Mistkerl mit den fehlenden Augen in die Finger bekommen hat. Also bin ich davon ausgegangen, dass sie dich ebenfalls gefangen halten, und wollte deshalb versuchen, uns beide hier rauszubringen.«
»Gefangen halten? Nein, Nate, da täuschst du dich.« Tessa schüttelte den Kopf. »Wir sind hier in Sicherheit.«
Nathaniel musterte sie mit zusammengekniffenen Augen. »Dies ist doch das Institut, oder etwa nicht? Man hat mich vor diesem Ort gewarnt. De Quincey sagte, es würde von Geistesgestörten geführt, von Monstern, die sich selbst als Nephilim bezeichnen. Er sagte, sie würden die Seelen menschlicher Verdammter in irgendeinem Behältnis einsperren und diese würden vor Qual schreien ...«
»Was? Meinst du die Pyxis? Sie dient nur zur sicheren Aufbewahrung von Dämonenenergie, Nate, enthält aber keine Menschenseelen! Das Gefäß ist vollkommen harmlos. Wenn du mir nicht glaubst, kann ich es dir später zeigen, in der Waffenkammer ...«
Nate zog weiterhin eine finstere Miene. »De Quincey sagte, wenn die Nephilim mich in die Finger bekämen, würden sie mich in der Luft zerfetzen, Stück für Stück, weil ich gegen ihre Gesetze verstoßen habe«, stieß er düster hervor.
Ein eisiger Schauer jagte Tessa über den Rücken. Sie trat einen Schritt zurück und sah, dass eines der Salonfenster weit offen stand und die Vorhänge in der kalten Brise flatterten. Dann hatte sie also nicht nur vor Anspannung gefröstelt. »Hast du das Fenster geöffnet? Hier drin ist es so furchtbar kalt, Nate.«
»Nein — es stand bereits offen, als ich hereinkam.«
Kopfschüttelnd durchquerte Tessa den Raum und schloss das Fenster. »Du wirst dir noch den Tod holen ...«
»Kümmere dich nicht um meinen Tod«, erwiderte Nate gereizt. »Was ist mit diesen Schattenjägern? Willst du mir ernsthaft sagen, dass sie dich nicht hier eingesperrt haben?«
»Ja, genau so ist es«, bestätigte Tessa und wandte sich vom Fenster ab. »Sie halten mich nicht gefangen. Die Schattenjäger mögen etwas seltsam sein, aber sie waren auch sehr freundlich zu mir. Ich wollte hierbleiben. Und sie waren so großzügig, mir dies zu gestatten.«
Nate schüttelte den Kopf. »Das verstehe ich nicht.«
Tessa verspürte einen Anflug von Wut, was sie überraschte. Entschlossen unterdrückte sie ihre Verärgerung — das Ganze war nicht Nates Schuld. Es gab so viele Dinge, die er nicht wissen konnte. »Wohin hätte ich mich sonst wenden sollen, Nate?«, fragte sie, trat auf ihn zu, nahm ihn behutsam am Arm und führte ihn zu seinem Sessel zurück. »Komm, setz dich. Du verausgabst dich zu sehr.«
Folgsam ließ Nate sich in den Sessel sinken und schaute sie geistesabwesend an. Tessa kannte diesen Blick: Er bedeutete, dass ihr Bruder etwas ausheckte, irgendeinen verrückten Plan schmiedete, einen lächerlichen Traum träumte. »Wir können noch immer von hier verschwinden«, sinnierte er. »Nach Liverpool reisen ... uns auf einem Ozeandampfer einen Platz buchen. Und nach New York zurückkehren.«
»Und was genau machen wir dann dort?«, erwiderte Tessa so sanft wie nur möglich. »In New York gibt es für uns kein Zuhause mehr. Nicht seit Tante Harriets Tod. Ich war gezwungen, sämtliches Mobiliar zu verkaufen, um die Bestattungskosten bezahlen zu können. Und auch ihr kleines Häuschen musste ich aufgeben — mir fehlte das Geld für die Miete. Es ist nichts mehr da, wohin wir zurückkehren könnten, Nate.«
»Dann schaffen wir uns ein neues Zuhause. Beginnen ein neues Leben.«
Traurig musterte Tessa ihren Bruder. Es schmerzte sie, ihn so zu sehen — mit flehentlicher Hoffnung in den Augen, blauen Blutergüssen im Gesicht, die sich wie unansehnliche Blüten entfalteten, und blutverkrusteten Haaren. Nate war nicht wie andere Menschen, hatte Tante Harriet stets zu sagen gepflegt. Er strahlte eine wundervolle Unschuld aus, die es unter allen Umständen zu bewahren galt.
Und Tessa hatte sich wirklich bemüht, viele Jahre lang. Ihre Tante und sie hatten Nates Charakterschwäche — und auch die Folgen seiner Unzulänglichkeiten und Verfehlungen — immer vor ihm selbst verborgen. Sie hatten ihm nie davon erzählt, welch harte Arbeit Tante Harriet zusätzlich annehmen musste, um das Geld, das er verspielte, wieder hereinzuholen. Oder von den Verhöhnungen, die Tessa erdulden musste, wenn andere Kinder ihren Bruder einen Trunkenbold und Nichtsnutz schimpften. Die beiden Frauen hatten all diese Dinge vor ihm geheim gehalten, um zu vermeiden, dass Nathaniel verletzt wurde. Doch nun war er trotz allem verletzt worden, überlegte Tessa. Vielleicht hatte Jem ja recht — vielleicht war die Wahrheit doch der beste Weg.
Nachdenklich setzte Tessa sich ihrem Bruder gegenüber auf ein Sofa und schaute ihn ruhig an. »Das wird uns nicht gelingen, Nate. Noch nicht. Dieser Schlamassel, in dem wir beide stecken, wird uns verfolgen, selbst wenn wir vor ihm davonlaufen. Und wenn wir davonlaufen, werden wir auf uns allein gestellt sein, sobald er uns findet. Es wird niemand da sein, der uns helfen oder gar beschützen könnte. Wir brauchen das Institut, Nate. Wir brauchen die Nephilim.«
Nates blaue Augen trübten sich. »Scheint so«, sagte er resigniert und der Ausdruck wirkte auf Tessa, die seit fast zwei Monaten nur britische Stimmen gehört hatte, so uramerikanisch, dass sie sofort einen heftigen Anflug von Heimweh verspürte. »Es ist alles meine Schuld — nur deswegen bist du jetzt hier«, fuhr Nate fort. »De Quincey hat mich gefoltert. Hat mich gezwungen, diese Briefe zu schreiben und dir den Fahrschein für das Dampfschiff zu schicken. Er hat mir versichert, er würde dir kein Haar krümmen, wenn er dich erst einmal bei sich hätte. Aber dann hat er jede meiner Bitten, dich endlich zu treffen, abgelehnt und ich dachte ... ich dachte ...« Er verstummte, hob den Kopf und sah sie niedergeschlagen an. »Du hast allen Grund, mich von ganzem Herzen zu hassen.«
»Ich könnte dich niemals hassen«, erwiderte Tessa mit fester Stimme. »Du bist mein Bruder. Wir sind eine Familie.«
»Meinst du, dass wir nach Hause zurückkehren können, wenn das alles vorbei ist?«, fragte Nate.
»Dass wir all das hier vergessen und ein ganz normales Leben führen können?«
Ein ganz normales Leben führen. Die Worte ließen vor Tessas innerem Auge ein Bild entstehen, das sie und Nate in einer kleinen, sonnigen Wohnung zeigte. Nate könnte sich eine Anstellung suchen, sie würde sich um den Haushalt kümmern, und wenn er abends nach Hause kam, würde sie für ihn kochen. Und am Wochenende könnten sie im Park spazieren gehen oder den Zug nach Coney Island nehmen und Karussell fahren oder sich von dem dampfbetriebenen Aufzug auf die Aussichtsplattform des Iron Tower transportieren lassen und das Feuerwerk über den Dächern des Manhattan Beach Hotel beobachten. Und tagsüber würde die Sonne sommerlich warm scheinen und nicht so blass und wolkenverhangen wie hier in London, überlegte Tessa. Und sie selbst könnte ein ganz normales Mädchen sein, die Nase in ihre Bücher stecken und mit beiden Beinen sicher auf dem vertrauten Pflaster ihrer Heimatstadt New York stehen.
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