»Es gibt Wichtigeres, als Vorsicht walten zu lassen.« Mühsam setzte Jem sich auf, wobei die Muskeln und Sehnen an seinem Hals deutlich hervortraten, und schob sich ein Kissen in den Rücken. Als er sich wieder an Will wandte, klang seine Stimme leicht atemlos: »Wenn dir das nicht gefällt, Will, dann musst du nicht hierbleiben.«
Im nächsten Moment hörte Tessa, wie die Tür geöffnet und dann mit einem leisen Klick ins Schloss gezogen wurde. Sie brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass Will hinausgegangen war. Fast gegen ihren Willen spürte sie einen Stich der Enttäuschung — wie jedes Mal, wenn er einen Raum verließ.
Jem seufzte. »Er ist ja so starrköpfig.«
»Aber er hat recht«, warf Tessa ein. »Zumindest im Hinblick darauf, dass du mir nichts erzählen musst, was du nicht wirklich willst. Ich weiß ohnehin, dass es nicht deine Schuld war.«
»Hier geht es nicht um Schuld oder Unschuld«, erwiderte Jem. »Ich bin nur der Ansicht, dass du die Wahrheit erfahren solltest. Etwas zu verheimlichen, hilft nur in den seltensten Fällen weiter«, sagte er und schaute einen kurzen Moment zur Tür, als wären seine Worte für seinen abwesenden Freund bestimmt. Dann seufzte er erneut und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Du weißt doch, dass ich den Großteil meines Lebens in Shanghai gelebt habe, zusammen mit meinen Eltern? Und dass ich im dortigen Institut aufgewachsen bin, oder?«
»Ja«, bestätigte Tessa und fragte sich, ob er vielleicht noch immer ein wenig benommen war. »Das hast du mir erzählt, auf der Brücke. Und du hast mir auch erzählt, dass ein Dämon deine Eltern getötet hat.«
»Yanluo«, stieß Jem hasserfüllt hervor. »Der Dämon hegte einen starken Groll gegen meine Mutter:
Sie war für den Tod einer ganzen Reihe seiner Nachkommen verantwortlich. Ihre Brutstätte befand sich in einer kleinen Stadt namens Lijiang, wo sie sich von den Kindern des Ortes ernährten. Meine Mutter räucherte das Nest aus und floh, bevor der Dämon sie fand. Yanluo wartete viele Jahre auf den Augenblick der Rache — Dämonenfürsten sind unsterblich —, aber er verlor sein Ziel keinen Moment aus den Augen«, erzählte Jem, hielt einen Moment inne und fuhr dann mit tonloser Stimme fort: »Als ich gerade elf geworden war, entdeckte Yanluo eine Schwachstelle im Schutzschild, der das Institut umgab, und grub einen Tunnel in das Gebäude. Er tötete sämtliche Wachen, nahm meine Familie als Geiseln und fesselte uns an die Stühle im großen Saal des Hauses. Und dann machte er sich ans Werk: Yanluo folterte mich vor den Augen meiner Eltern.
Wieder und wieder injizierte er mir ein brennendes Dämonengift, das meine Adern versengte und mir fast den Verstand raubte. Zwei ganze Tage lang wechselte ich zwischen Bewusstsein und Halluzinationen und Albträumen. Ich sah die Welt in Strömen von Blut ertrinken und ich hörte die Schreie der Sterbenden und Toten seit Anbeginn aller Tage. Ich sah London in Flammen aufgehen und große Metallkreaturen auf und ab schreiten wie riesige Spinnen ...« Ein Moment lang stockte sein Atem. Er war nun sehr bleich und das Nachthemd klebte schweißfeucht an seiner Brust, doch er wischte Tessas besorgte Bemühungen einfach beiseite. »Alle paar Stunden kehrte ich gerade lange genug in die Wirklichkeit zurück, um die Schreie meiner Eltern zu hören — sie schrien meinen Namen. Als ich am zweiten Tag das Bewusstsein wiedererlangte, hörte ich nur noch meine Mutter. Mein Vater war für immer zum Schweigen gebracht worden. Die Stimme meiner Mutter klang heiser und brüchig, aber sie rief noch immer meinen Namen — nicht meinen britischen Namen, sondern den, den sie mir bei meiner Geburt gegeben hatte: Jian. Manchmal kann ich sie sogar noch heute rufen hören ... meinen Namen rufen hören.« Seine Hände umklammerten das Kissen an seiner Brust so fest, dass das Gewebe an manchen Stellen zu reißen drohte.
»Jem«, sagte Tessa leise. »Du kannst aufhören, wenn du willst — du brauchst mir das nicht alles zu erzählen.«
»Erinnerst du dich, wie ich vor ein paar Tagen die Vermutung aufgestellt habe, dass Mortmain sein Vermögen wahrscheinlich durch den Schmuggel von Opium erlangt hat?«, fragte Jem statt einer Antwort.
»Die Briten schleusen das Zeug tonnenweise nach China. Sie haben aus uns eine Nation von Opiumabhängigen gemacht. Auf Chinesisch nennen wir diese Droge auch ›fremdländischer Dreck‹ oder ›schwarzer Rauch‹. Shanghai, meine Heimatstadt, wurde in gewisser Weise auf Opium errichtet — ohne diese Substanz wäre sie nicht das, was sie heute ist. In der Stadt wimmelt es von Opiumhöhlen, in denen hohläugige Männer sich zu Tode hungern, weil es sie nach nichts anderem mehr gelüstet als nach dieser Droge ... Sie wollen mehr davon, immer nur noch mehr. Und dafür würden sie alles geben. Früher habe ich diese Männer verachtet. Ich konnte einfach nicht verstehen, warum sie so schwach waren.« Gequält holte Jem tief Luft.
»Als die Shanghaier Brigade sich schließlich über die völlige Stille im Institut wunderte und sich gewaltsam Zutritt verschaffte, um uns zu retten, waren meine Eltern bereits tot. Ich kann mich an diese Zeit überhaupt nicht erinnern, aber man hat mir erzählt, dass ich unablässig geschrien und halluziniert hätte. Daraufhin hat man mich zu den Brüdern der Stille gebracht, die meinen Körper nach bestem Vermögen heilten. Allerdings gab es da etwas, das sie nicht kurieren konnten: Ich war von der Substanz, mit der der Dämon mich vergiftet hatte, abhängig geworden. Mein Organismus braucht das Gift auf vergleichbare Weise, wie der Körper eines Opiumabhängigen seine Droge braucht. Die Stillen Brüder versuchten, mich einer Entziehungskur zu unterziehen, doch damit waren schreckliche Schmerzen verbunden. Und obwohl sie in der Lage waren, den Schmerz mithilfe von Zaubersprüchen zu dämpfen, schädigte der Entzug des Giftes meinen Körper so sehr, dass ich schließlich an der Schwelle des Todes schwebte. Nach wochenlangen Versuchen und Experimenten kamen die Stillen Brüder zu dem Schluss, dass sich die Situation wohl nicht ändern ließe: Ich konnte ohne diese Substanz nicht mehr leben. Das Gift an sich bedeutet ein langes Dahinsiechen, doch ein völliger Entzug hätte meinen sofortigen Tod herbeigeführt.«
»Wochenlange Versuche und Experimente?«, wiederholte Tessa entsetzt. »Als du gerade einmal elf Jahre alt warst? Das erscheint mir sehr grausam.«
»Wer Gutes tun will, kann nicht immer freundlich sein«, erwiderte Jem und schaute an ihr vorbei. »Dort drüben, auf dem Nachttisch, steht ein Kästchen. Kannst du mir das bitte reichen?«
Tessa nahm das Kästchen in die Hand. Es war aus Silber gefertigt und auf dem Deckel mit einer EmailleEinlegearbeit verziert: Die Szenerie zeigte eine schlanke Frau in einem weißen Gewand, die barfuß an einem Fluss stand und Wasser aus einer Vase in den Strom goss. »Wer ist das?«, fragte Tessa, während sie Jem das Kästchen gab.
»Kwan Yin, die Göttin der Barmherzigkeit und des Mitgefühls. Es heißt, sie höre jedes Gebet und jeden Schmerzensschrei und tue alles in ihrer Macht Stehende, um das Leid zu lindern. Ich habe mir gedacht, wenn ich die Ursache meines Leidens in einem Kästchen mit ihrem Abbild aufbewahre, könnte dies den Schmerz möglicherweise ein wenig mildern.« Jem öffnete den Schnappverschluss und der Deckel glitt nach hinten. Darunter kam eine dicke Lage feines Pulver zum Vorschein, das Tessa zunächst für Asche hielt. Allerdings schimmerte das Pulver dafür zu hell — fast im selben silberglänzenden Ton wie Jems Augen.
»Dies ist die Substanz«, erklärte er. »Wir beziehen sie von einem befreundeten Hexenmeister in Limehouse. Ich muss jeden Tag etwas davon einnehmen. Das ist der Grund, weshalb ich so ... so gespenstisch aussehe; das Gift entzieht meinen Augen und Haaren und sogar meiner Haut jegliche Farbe. Manchmal frage ich mich, ob meine Eltern mich überhaupt noch erkennen würden ...« Er verstummte und räusperte sich schließlich. »Vor einem Kampf nehme ich eine größere Menge als üblich ein. Eine geringere Dosierung hingegen schwächt mich. Und als wir vorhin zu unserem Abendspaziergang aufgebrochen sind, hatte ich noch gar nichts von der Substanz zu mir genommen. Aus diesem Grund bin ich zusammengebrochen. Nicht wegen der KlockwerkKreaturen, sondern wegen des Gifts. Ohne dieses Mittel ist mir das Ganze — der Kampf, die anschließende Flucht — einfach zu viel geworden ... Mein Körper musste an seine eigenen Reserven gehen und deshalb bin ich kollabiert.« Mit einem lauten Schnappen schloss er das Kästchen und reichte es Tessa. »Hier. Bitte stell es wieder zurück an seinen Platz.«
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