»Was ist passiert?«, wiederholte er mit erhobener Stimme, in die sich ein Anflug von aufgebrachter Panik mischte. »Bist du verletzt? Wo ist Jem?«
»Ich bin unverletzt«, wisperte Tessa. »Aber Jem ... er ist zusammengebrochen. Da drüben.« Sie zeigte auf die Stelle, wo Jem zusammengekrümmt im Schatten des Portals lag.
Schlagartig verlor Wills Gesicht jeden Ausdruck, wie eine frisch gewischte Tafel. Ohne Tessa noch eines Blickes zu würdigen, stürmte er die Stufen hinauf und ließ sich an Jems Seite auf die Knie fallen, wobei er ihn mit leiser Stimme irgendetwas fragte. Als er keine Antwort erhielt, hob er den Kopf und brüllte laut nach Thomas, damit dieser ihm half, Jem ins Gebäude zu tragen. Außerdem rief er noch irgendetwas anderes, das Tessa in ihrer Benommenheit aber nicht verstehen konnte. Vielleicht brüllte er ja sie an. Vielleicht dachte er ja, dass das alles ihre Schuld sei? Wenn sie nicht die Beherrschung verloren hätte, wenn sie nicht aus dem Salon gestürmt wäre und Jem dazu veranlasst hätte, ihr nachzugehen ...
Plötzlich tauchte in der hell erleuchteten Tür ein dunkler Schatten auf — Thomas, der mit wirren Haaren und ernstem Gesicht wortlos neben Will niederkniete. Gemeinsam hoben sie Jem auf die Füße, legten sich jeweils einen Arm um die Schultern und schleppten ihn hastig ins Innere der Kirche, ohne sich noch einmal nach Tessa umzusehen.
Benommen starrte Tessa in den Innenhof. Irgendetwas war seltsam, anders. Und dann wurde es ihr klar: Die plötzliche Stille nach dem lauten Kampfgetümmel wirkte fast unheimlich. Die zerstörten Klockwerk-Kreaturen lagen verstreut auf dem Pflaster, über das sich eine zähflüssige, ölige Flüssigkeit ergoss; die Flügel des Eisentors hingen schräg in den Angeln und der Mond schien bleich vom Himmel — genau wie wenige Minuten zuvor auf der Brücke, als Jem ihr gesagt hatte, dass auch sie ein Mensch sei.
Bei Gott, was wünscht’ ich, die Liebe wäre Blüten oder Funken gleich.
Das Leben dem Ersinnen eines Namens gleich,
Der Tod nicht trauriger als lüsternes Verzehren.
Bei Gott, was wünscht’ ich, dass diese Dinge nicht dasselbe wären!
Algernon Charles Swinburne, »Laus Veneris«
»Miss Tessa!« Sophies Stimme schallte durch den Innenhof.
Langsam drehte Tessa sich um und sah das Dienstmädchen in der offenen Portaltür; eine flackernde Laterne baumelte in ihrer Hand.
»Ist alles in Ordnung, Miss Tessa?«, fragte sie und kam auf Tessa zu.
Der Anblick des anderen Mädchens erfüllte Tessa mit einer Woge der Dankbarkeit — sie hatte sich schrecklich einsam gefühlt. »Mir geht es gut, ich bin unverletzt. Henry hat sich allerdings an die Fersen dieser Kreaturen geheftet und Charlotte ...«
»Ach, keine Sorge. Die wissen sich schon zu helfen«, erwiderte Sophie beruhigend und legte Tessa eine Hand auf den Ellbogen. »Kommen Sie. Lassen Sie uns ins Haus gehen, Miss, und Sie verarzten. Sie bluten.«
»Tatsächlich?« Benommen befühlte Tessa ihre Stirn und betrachtete verwundert ihre rot verfärbten Fingerspitzen. »Ich muss mir den Kopf gestoßen haben, als ich auf die Stufen gestürzt bin. Aber ich habe überhaupt nichts davon bemerkt.«
»Das ist der Schock«, erklärte Sophie ruhig und Tessa fragte sich, wie oft das Mädchen während seiner Dienstzeit im Institut diese Dinge wohl schon verrichtet haben mochte — Wunden versorgen, Blutlachen fortwischen. »Kommen Sie, dann kann ich Ihnen einen Verband anlegen.«
Tessa nickte, warf noch einen letzten Blick auf das Bild der Zerstörung im Innenhof und ließ sich von Sophie ins Gebäude führen. Die nächsten Minuten glitten wie im Nebel an Tessa vorbei: Sophie half ihr die Treppe hinauf ins Obergeschoss, platzierte sie fürsorglich in einem der schweren Sessel im Salon, eilte dann davon und kehrte kurz darauf mit Agatha zurück, die Tessa eine Tasse mit heißer Flüssigkeit in die Hand drückte.
In dem Augenblick, als Tessa der Geruch des dampfenden Heißgetränks in die Nase stieg, wusste sie, worum es sich dabei handelte — Brandy und Wasser. Unwillkürlich musste sie an Nate denken und zögerte einen Moment, aber nachdem sie ein paar Mal vorsichtig an der heißen Tasse genippt hatte, schien die Welt um sie herum wieder klarer zu werden. Kurze Zeit später kehrten Charlotte und Henry zurück und erfüllten den Raum mit typischem Kampfgeruch — einer Mischung aus Metall, Öl und Blut. Mit finsterer Miene legte Charlotte ihre Waffen auf den Tisch. Dann rief sie nach Will, der jedoch nicht reagierte; dafür erschien Thomas eilig in der Salontür und erklärte ihr, dass Will bei Jem sei und dass es Jem bald wieder besser gehen würde.
»Die Kreaturen haben ihn verwundet und er hat einiges an Blut verloren«, berichtete Thomas, fuhr sich mit der Hand durch die wirren braunen Haare und warf dabei Sophie einen Blick zu. »Aber Will hat ihn mit einer Heilrune versehen ...«
»Und was ist mit seiner Arznei?«, hakte Sophie rasch nach. »Hat er die auch bekommen?«
Als Thomas nickte, ließ die Anspannung in Sophies Schultern deutlich nach. Auch Charlottes Züge entspannten sich ein wenig. »Danke, Thomas«, sagte sie.
»Vielleicht könntest du nachsehen, ob er sonst irgendetwas benötigt ...«
Thomas nickte erneut und marschierte zur Tür, wo er sich noch einmal kurz nach Sophie umschaute, doch das Mädchen schien seinen Blick überhaupt nicht wahrzunehmen.
Charlotte ließ sich gegenüber von Tessa auf ein Sofa sinken und fragte besorgt: »Tessa, kannst du uns erzählen, was passiert ist?«
Mit steifen Fingern, die sich trotz des warmen Porzellans klamm anfühlten, umklammerte Tessa ihre Tasse. Ein Schaudern fuhr durch ihren Körper. »Habt ihr die anderen geschnappt ... die, die geflüchtet sind? Die ... was auch immer sie sein mögen ... diese Metallmonster?«
Ernst schüttelte Charlotte den Kopf. »Wir haben sie noch durch einige Straßen verfolgt, aber auf Höhe der Hungerford Bridge waren sie urplötzlich verschwunden. Henry meinte, dass dabei irgendwelche Magie im Spiel gewesen sein muss.«
»Oder ein Geheimtunnel«, bemerkte Henry. »Ich habe auch von einem Geheimtunnel gesprochen, Liebes.« Dann wandte er sich Tessa zu. Sein freundliches Gesicht war blut- und ölverschmiert, seine leuchtend bunte Weste zerschlitzt und zerrissen — er erinnerte an einen Schuljungen, der in einen handfesten Streit geraten war. »Hast du die Kreaturen vielleicht aus einem Tunnel klettern sehen, Tessa?«, fragte er interessiert.
»Nein«, sagte Tessa, wobei ihre Stimme fast wie ein Flüstern klang. Sie räusperte sich und nahm noch einen Schluck von der heißen Flüssigkeit, die Agatha ihr gegeben hatte. Dann stellte sie die Tasse auf einen Beistelltisch und schilderte den Vorfall in allen Einzelheiten, angefangen von der Brücke und dem Kutscher über die Verfolgungsjagd bis hin zu den Worten der Kreaturen und ihrem Vordringen durch das Institutstor.
Charlotte hörte mit angespanntem bleichem Gesicht zu; selbst Henry schaute grimmig und Sophie saß still auf einem Sessel und lauschte Tessas Bericht mit der ernsten Aufmerksamkeit eines Schulmädchens.
»Sie sagten, sie würden eine Kriegserklärung überbringen«, beendete Tessa ihre Schilderung. »Und sie würden an uns Rache nehmen wollen — an euch —, für das, was bei de Quincey geschehen sei.«
»Und diese Kreatur hat ihn als den Magister bezeichnet?«, fragte Charlotte.
Tessa presste die Lippen fest zusammen, damit sie nicht länger zitterten. Nach kurzem Nachdenken erklärte sie: »Ja. Er sagte, ich sei das Eigentum des Magisters und dieser habe ihn gesandt, um mich zu holen ... Charlotte, das ist alles meine Schuld. Ohne mich hätte de Quincey niemals diese Kreaturen auf uns gehetzt und Jem wäre nicht ...« Tessa verstummte und schaute auf ihre Hände. »Vielleicht solltet ihr mich ihm einfach überlassen.«
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