»Der Magister . .«, sagte Jem gedehnt und seine Augen glitzerten silbern im Mondlicht, »meinst du damit de Quincey?«
»Der Name, den ihr ihm gebt, spielt keine Rolle. Er ist der Magister. Er hat uns aufgetragen, eine Nachricht zu überbringen. Und diese Nachricht lautet ›Krieg‹.«
Jems Griff um den Knauf seines Spazierstocks verstärkte sich. »Ihr dient de Quincey, seid aber selbst keine Vampire. Was seid ihr dann?«
Die Frau neben dem Mann stieß ein seltsames Seufzen aus, wie der hohe Pfeifton einer Lokomotive:
»Hütet euch, Nephilim! So wie ihr andere richtet, so werdet auch ihr gerichtet werden. Euer Engel kann euch nicht vor dem schützen, das weder Gott noch der Teufel schuf.«
Tessa wollte sich gerade an Jem wenden, als dieser bereits reagierte: Seine Hand mit dem schweren Spazierstock machte eine pfeilschnelle Bewegung, dann erfolgte ein Aufblitzen und eine rasiermesserscharfe, schimmernde Klinge schoss aus dem unteren Ende des Stocks hervor. Mit einer geschmeidigen Körperdrehung schwang Jem die Waffe nach vorn und hieb sie dem Kutscher quer über die Brust, der daraufhin überrascht rückwärtstaumelte und ein hohes, sirrendes Pfeifen von sich gab.
Bestürzt hielt Tessa die Luft an. In der Brust des Kutschers klaffte eine breite Wunde, doch unter dem aufgeschlitzten Hemd kam weder Haut noch Blut zum Vorschein, sondern nur glänzendes Metall, das durch Jems Klinge eine tiefe Kerbe erlitten hatte. Jem zog seine Waffe zurück und stieß ein Schnauben aus, eine Mischung aus Genugtuung und Erleichterung. »Hab ich’s doch gewusst ...«
Der Kutscher knurrte und zog ein langes Fleischermesser aus dem Mantel, während die Frau nun ebenfalls zum Leben erwachte und mit ausgestreckten, nackten Händen auf Tessa zumarschierte. Ihre Bewegungen waren abgehackt, ruckartig, aber sehr, sehr schnell — viel schneller, als Tessa erwartet hätte. Sie steuerte unbeirrt auf Tessa zu, mit ausdrucksloser Miene und leicht geöffnetem Mund, in dem irgendetwas glänzte, Metall oder Kupfer. Sie hat keine Speiseröhre und vermutlich auch keinen Magen: Ihre Mundhöhle endet hinter den Zähnen in einer Metallplatte, erinnerte Tessa sich an Henrys Worte.
Entsetzt wich sie zurück, bis sie mit dem Rücken gegen die Brüstung stieß. Hilfe suchend schaute sie sich nach Jem um, der jedoch gerade vom Kutscher attackiert wurde. Mit blitzschnellen Bewegungen ließ Jem seine Klinge auf den Mann herabsausen, doch dies schien den Angreifer, dessen Mantel und Hemd nun in Fetzen an ihm herabhingen und den Metallkorpus deutlich erkennen ließen, nicht besonders zu behindern.
Inzwischen versuchte die Frau, Tessa zu packen. Es gelang ihr jedoch, rasch zur Seite auszuweichen, woraufhin die Frau ungebremst nach vorne schoss und mit voller Wucht gegen die Granitbrüstung prallte. Doch offenbar war sie genauso schmerzunempfindlich wie der Kutscher, denn sie rappelte sich steif auf, drehte sich um und steuerte erneut auf Tessa zu. Der Aufprall hatte allerdings ihren linken Arm beschädigt. Er hing schlaff an ihrem Körper herab, während sie mit der Rechten ausholte und mit steif gespreizten Fingern Tessas Handgelenk zu fassen bekam. Ihr Griff war so fest, dass Tessa vor Schmerz aufschrie, als sie die feinen Knochen in ihrem Gelenk knirschen spürte. Wütend schlug sie auf die Hand ein, die sie festhielt, und grub ihre Finger tief in die schlüpfrige, weiche Haut der Frau. Doch das Gewebe löste sich wie die Schale einer Frucht und Tessas Fingernägel kratzten so heftig über das darunter-liegende Metall, dass ihr ein Schauer über den Rücken jagte.
Verzweifelt versuchte sie, ihr Gelenk mit einem Ruck aus der Umklammerung zu befreien. Doch das führte nur dazu, dass sie die Frau auf sich zuzog, aus deren Kehle nun ein sirrendes, klickendes Geräusch aufstieg — ein Geräusch, das Tessa auf unangenehme Weise an ein Insekt erinnerte. Auch die pupillenlosen schwarzen Augen hatten etwas Insektenartiges an sich. Panisch holte Tessa mit dem Fuß aus ... Im selben Moment ertönte das laute Klirren von Metall auf Metall: Jems Klinge blitzte auf, sauste herab und durchtrennte den Ellbogen der Frau mit einem klaren Schnitt. Plötzlich befreit, taumelte Tessa rückwärts, während die abgehackte Hand von ihrem Gelenk abfiel und vor ihren Füßen auf dem Boden auftraf. Gleichzeitig wirbelte die Frau zu Jem herum und ruckelte sirrend und klickend auf ihn zu. Jem holte aus und versetzte der Frau einen heftigen Schlag mit dem Knauf seines Spazierstocks, wodurch sie einen Schritt zurückgeworfen wurde. Dann trieb er sie mit weiteren Schlägen rückwärts, bis sie so hart gegen das Brückengeländer stieß, dass sie das Gleichgewicht verlor. Ohne einen einzigen Ton von sich zu geben, stürzte sie über die Brüstung hinab in den Fluss. Sofort stürmte Tessa zum Geländer — und konnte gerade noch sehen, wie die Frau stumm in den Fluten verschwand, ohne dass eine einzige Luftblase an die Oberfläche stieg.
Tessa wirbelte erneut herum. Jem stand ein paar Schritte entfernt. Sein Atem ging schwer und Blut lief aus einer Schnittwunde an seiner Schläfe, aber ansonsten schien er unversehrt. Er hielt seine Waffe locker in einer Hand und starrte auf den dunklen, buckligen Korpus, der sich vor seinen Füßen wand. Erst bei näherem Hinsehen erkannte Tessa, dass es sich um den zuckenden Rumpf des Kutschers handelte, dessen Metallflächen zwischen den zerfetzten Kleidungsstücken hervorschimmerten. Sein Kopf war sauber abgetrennt und eine schwarze, ölige Flüssigkeit strömte pulsierend aus seinem Halsstumpf und ergoss sich über den Brückenbelag.
Jem strich sich die schweißfeuchten Haare nach hinten und verschmierte dabei das Blut auf seiner Wange. Seine Hand zitterte.
Zögernd berührte Tessa ihn am Arm. »Alles in Ordnung?«, fragte sie besorgt.
»Das sollte ich dich fragen.« Jem schenkte ihr ein mattes Lächeln und schauderte dann leicht. »Diese mechanischen Dinger werden langsam wirklich lästig. Diese Kreaturen ...« Plötzlich verstummte er und schaute an Tessa vorbei.
Am südlichen Brückenende war mindestens ein halbes Dutzend weiterer Klockwerk-Kreaturen aufgetaucht und marschierte nun mit stakkatoartigen Schritten auf sie zu. Trotz der ruckartigen Bewegungen kamen sie erschreckend schnell näher und hatten einen Moment später bereits ein Drittel der Brückenlänge zurückgelegt.
Entschlossen drückte Jem auf einen Knopf an seinem Spazierstock, woraufhin die Klinge mit einem lauten Klick im Schaft verschwand. Dann packte er Tessas Hand und stieß atemlos hervor: »Lauf.«
Und dann rannten sie los, wobei Tessa nur ein einziges Mal einen entsetzen Blick über die Schulter warf: Die Kreaturen waren inzwischen bis zur Brückenmitte vorgedrungen und stürmten mit zunehmender Geschwindigkeit auf sie zu. Es handelte sich ausschließlich um männliche Gestalten, die alle dieselben Filzhüte und dunklen Wollmäntel wie der Kutscher trugen. Ihre Gesichter glänzten im Mondlicht. Endlich erreichten die beiden Flüchtenden den Treppenaufgang am Ende der Brücke, und während sie die Stufen hinabliefen, hielt Jem Tessas Hand umklammert. Als Tessa auf einer besonders feuchten Steinstufe ausrutschte, fing er sie auf, wobei sein Spazierstock gegen ihren Rücken schlug. Tessa spürte, wie sich seine Brust schwer hob und senkte, als würde er nach Luft ringen. Aber er konnte doch nicht derart außer Atem sein, oder? Schließlich war er ein Schattenjäger und im Codex stand, dass diese meilenweit laufen konnten. Als Jem sich aufrichtete, sah Tessa die Anspannung in seinem Gesicht — es schien, als hätte er starke Schmerzen. Sie wollte ihn fragen, ob er verletzt sei, doch dazu blieb keine Zeit: Über ihnen hörten sie bereits das Dröhnen schwerer Schritte auf den Stufen. Wortlos packte Jem erneut Tessas Handgelenk und zog sie wieder hinter sich her.
Sie liefen ein Stück über die Uferpromenade, im Schein der Laternen, um deren gusseiserne Pfähle sich verspielte Delfine rankten. Dann bog Jem abrupt ab und zog Tessa in einen schmalen Steg zwischen zwei Gebäuden. Die leicht ansteigende Gasse führte vom Fluss fort und roch muffig und feucht. Über ihren Köpfen spannten sich Leinen von Fenster zu Fenster, an denen Wäschestücke flatterten wie Gespenster. Das rutschige Kopfsteinpflaster schien zentimeterhoch unter Dreck und Schlamm zu liegen und Tessas Füße in den modischen Schuhen sandten wütende Proteste aus. Mittlerweile raste ihr Herz wie wild, doch ihr blieb keine Zeit zum Verschnaufen: Sie konnte die Kreaturen bereits hinter sich hören und ihre sirrenden, klickenden Geräusche kamen immer näher.
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