»Eure königliche Hoheit«, sagte Trauerpfützler und sank auf ein Knie (die Kinder taten es ihm nach). »Wir sind zu keinem anderen Zweck hierher gekommen, als um Euch zu suchen.«
»Und wer seid ihr, meine anderen Erlöser?«, fragte der Prinz, zu Eustachius und Jill gewandt.
»Aslan selbst hat uns von einem Ort hinter dem Ende der Welt hergeschickt um Eure Hoheit zu suchen«, erklärte Eustachius. »Ich bin Eustachius, der mit Eurem Vater zur Insel Ramandus segelte.«
»Ich stehe so hoch in eurer Schuld, dass ich diese wohl nie werde begleichen können«, sagte Prinz Rilian. »Aber was ist mit meinem Vater? Lebt er noch?«
»Er segelte wieder nach Osten, Herr, kurz bevor wir Narnia verließen«, antwortete Trauerpfützler. »Aber Ihr dürft nicht vergessen, dass er sehr alt ist. Es steht zehn zu eins, dass Seine Majestät auf der Reise sterben wird.«
»Er ist alt, sagst du? Wie lange war ich in der Gewalt dieser Hexe?«
»Es ist mehr als zehn Jahre her, Hoheit, seit Ihr in den Wäldern an der Nordseite Narnias verschwunden seid.«
»Zehn Jahre!«, rief der Prinz aus und strich sich mit der Hand über das Gesicht, als wollte er die Vergangenheit wegwischen.
»Ja, ich glaube dir. Denn jetzt, wo ich wieder ich selbst bin, erinnere ich mich an mein Leben in der Verwünschung, obwohl ich mich nicht an mein wahres Ich erinnern konnte, solange ich verwunschen war. Und nun, liebe Freunde – aber wartet! Ich höre ihre Füße auf der Treppe – ist dieser tapsende, weiche Schritt für einen Menschen nicht Ekel erregend? Pfui! Schließ die Tür, Junge! Oder bleib da. Ich habe eine bessere Idee. Ich werde diese Erdmänner an der Nase herumführen, wenn Aslan mir den Witz dazu gibt. Wartet erst einmal ab, was ich sage.«
Resolut ging er zur Tür und öffnete sie weit.
12. Die Königin vom Unterland
Zwei Erdmänner traten ein. Doch statt näher zu kommen, stellten sie sich rechts und links der Tür auf und verneigten sich tief. Und dann folgte sofort die Person, die sie am allerwenigsten erwartet oder herbeigesehnt hatten: die Grüngewandete, die Königin vom Unterland. Sie blieb regungslos in der Tür stehen und sie sahen an ihren Augen, dass sie die Situation mit einem Blick erfasste: Die drei Fremden, den zerstörten silbernen Sessel und den befreiten Prinzen mit dem Schwert in der Hand.
Sie wurde leichenblass, doch Jill war der Ansicht, diese Blässe sei nicht von der Furcht hervorgerufen, sondern vom Zorn. Einen Augenblick lang heftete die Hexe ihre Augen auf den Prinzen und in ihnen lag Mordlust. Dann schien sie sich anders zu besinnen.
»Lasst uns allein«, befahl sie den beiden Erdmännern. »Und dass uns niemand stört, ehe ich rufe, oder der Tod ist ihm gewiss.« Die beiden Gnome tapsten gehorsam weg und die Hexe schloss die Tür und legte den Riegel vor.
»Was sehe ich, königlicher Prinz«, sagte sie. »Hat Euch Euer nächtlicher Anfall noch nicht übermannt oder ist er schon so früh vorbei? Warum steht Ihr hier ohne Fesseln? Wer sind die Fremden? Sind sie es, die Euren Sessel zerstört haben, der Eure einzige Sicherheit war?«
Prinz Rilian zitterte, während sie zu ihm sprach. Kein Wunder: Es ist nicht leicht, innerhalb einer halben Stunde eine Verzauberung abzuwerfen, die einen zehn Jahre lang zum Sklaven gemacht hat. Dann sagte er sehr mühsam: »Meine Dame, dieser Sessel wird nicht mehr benötigt. Und Ihr, die Ihr mir hundertmal gesagt habt, wie sehr Ihr mich wegen des Zaubers bedauert, der auf mir liegt, werdet zweifellos mit Freuden hören, dass er nun für immer von mir genommen ist. Es scheint, als hättet Ihr, Hoheit, in seiner Behandlung einen kleinen Fehler gemacht. Diese, meine wahren Freunde, haben mich erlöst. Ich bin jetzt bei klarem Verstand und es gibt zwei Dinge, die ich Euch sagen möchte. Erstens: Euer Plan – mich an die Spitze einer Armee von Erdmännern zu setzen, um in die Oberwelt vorzustoßen und mich dort durch rohe Gewalt zum König einer Nation zu machen, die mir niemals etwas angetan hat, ihre rechtmäßigen Herrscher zu morden und als blutiger fremder Tyrann ihren Thron zu besteigen – ist mir jetzt, wo ich wieder bei mir bin, ganz und gar zuwider und ich weise ihn als niederträchtige Schurkerei zurück. Und zweitens: Ich bin Rilian, Sohn des Königs von Narnia, einziges Kind von Kaspian, dem Zehnten dieses Namens, von manchen Kaspian der Seefahrer genannt. Deshalb, meine Dame, ist es mein Wille und meine Pflicht, den Hof Eurer Hoheit sofort zu verlassen und in mein eigenes Land zurückzukehren. Seid so gut und gewährt mir und meinen Freunden freies Geleit und einen Führer durch Euer dunkles Reich.«
Die Hexe sagte kein Wort. Sie ging behutsam durch den Raum, wobei sie ihr Gesicht und ihre Augen unentwegt auf den Prinzen gerichtet hielt. Als sie bei einem kleinen Schrein in der Wand nahe beim Kamin angelangt war, öffnete sie ihn und entnahm ihm eine Hand voll grünen Pulvers. Dieses warf sie auf das Feuer. Es brannte kaum, aber es verströmte einen süßen und einschläfernden Duft. Und während des ganzen Gesprächs, das nun folgte, wurde dieser Duft immer stärker, erfüllte den Raum und erschwerte das Denken. Dann nahm sie aus dem Schrein ein Musikinstrument, das einer Mandoline ähnelte. Sie begann es mit den Fingern zu zupfen – sie erzeugte dabei ein gleichmäßiges, monotones Klimpern, das man schon ein paar Minuten später nicht mehr wahrnahm. Aber je weniger man es wahrnahm, desto mehr drang es einem ins Gehirn und ins Blut. Auch das erschwerte das Denken. Nachdem die Hexe ein Weilchen geklimpert hatte (und der süße Duft stärker geworden war), begann sie mit süßer, ruhiger Stimme zu sprechen.
»Narnia?«, sagte sie. »Narnia? Ich habe oft gehört, wie Ihr in Eurem Wüten diesen Namen ausgesprochen habt. Lieber Prinz, Ihr seid sehr krank. Es gibt kein Land namens Narnia.«
»Doch, das gibt es, meine Dame«, entgegnete Trauerpfützler. »Ich habe nämlich zufallig mein ganzes Leben lang dort gelebt.«
»So?«, sagte die Hexe. »Dann sag mir bitte, wo dieses Land liegt.«
»Da oben«, antwortete Trauerpfützler beherzt und deutete nach oben. »Ich – ich weiß nicht genau wo.«
»Wie?«, fragte die Königin mit einem freundlichen leisen, melodischen Lachen. »Ist dort zwischen den Steinen und dem Mörtel der Decke ein Land?«
»Nein«, sagte Trauerpfützler. Er hatte Mühe, Atem zu holen. »Es ist in der Oberwelt.«
»Und was oder wo ist diese ... wie nennst du sie ... Oberwelt?«
»Ach, seid doch nicht so albern«, sagte Eustachius, der mühsam gegen den Zauber des Geruchs und des Geklimpers ankämpfte. »Als ob Ihr das nicht wüsstet! Es ist oben auf der Erde, dort wo man den Himmel, die Sonne und die Sterne sehen kann. Ihr wart doch selbst dort. Wir haben Euch dort getroffen.«
»Ich bitte um Gnade, kleiner Bruder«, lachte die Hexe glockenhell. »Ich erinnere mich nicht an diese Begegnung. Aber in unseren Träumen treffen wir unsere Freunde oft an eigenartigen Orten. Und da nicht alle dasselbe träumen, darf man nicht verlangen, dass sich auch die anderen daran erinnern.«
»Meine Dame«, sagte der Prinz streng. »Ich habe Euch schon gesagt, dass ich der Sohn des Königs von Narnia bin.«
»Und das werdet Ihr auch bleiben, lieber Freund«, meinte die Hexe beschwichtigend, als wollte sie ein Kind trösten. »In Eurer Fantasie werdet Ihr der König vieler Traumländer sein.«
»Wir waren auch dort«, erklärte Jill patzig. Sie war sehr böse, denn sie spürte, wie der Zauber immer mehr von ihr Besitz ergriff. Aber die Tatsache, dass sie dies noch spürte, zeigte, dass er noch nicht ganz gewirkt hatte.
»Und auch du bist ohne Zweifel Königin von Narnia, meine Hübsche«, sagte die Hexe im selben einschmeichelnden, spöttischen Tonfall.
»Ganz und gar nicht«, entgegnete Jill und stampfte mit dem Fuß auf. »Wir kommen aus einer anderen Welt.«
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