Eine Panikattacke, die ihr weiche Knie beschert und in ihrem Mund einen ekligen Geschmack zurückgelassen hatte, lag bereits hinter ihr; zweimal war Ywha in einer Straßenbahn die gesamte Strecke mitgefahren, bis der Schaffner sie schließlich misstrauisch beäugt hatte.
Es hieß, eine Hexe fürchte die Initiation genauso wie eine Jungfrau die Hochzeitsnacht. Ywha wusste nicht, ob das stimmte; von ihrer Jungfräulichkeit hatte sie sich spielend verabschiedet — es war ihr so vorgekommen, als ob Nasar und sie bloß fummelten. Bei dem Gedanken an eine mögliche Initiation packte sie dagegen heftige Angst; sie sah sich an einem Abgrund stehen, dessen gezackter Rand einen Punkt markierte, von dem es kein Zurück mehr gab. Selbst einen Menschen und einen Hund schien mehr miteinander zu verbinden als einen Menschen und eine Hexe …
In ihren Albträumen schwebte sie in einem langen schwarzen Gewand über einem aufgeschlagenen alten Buch. Sie lief einen schmalen, verschlungenen Weg entlang, eine von vielen, die an einer beängstigend einlullenden Prozession teilnahmen. Schließlich flog sie nackt auf einem Besen durch die Luft, wobei an ihrem Hintern ein kurzer Schwanz prangte. Aber sobald sie aufwachte und den warmen, entspannten Körper Nasars spürte …
Ywha schaltete sich in die Realität zurück. Unmittelbar vor ihr befand sich ein neues Münztelefon, ein grauer Apparat mit nur einem einzigen, langen und tiefen Kratzer. Wie eine Narbe auf einem jungen Gesicht.
Ywha seufzte mehrmals. Seit zwei Tagen verfolgten sie jetzt diese Telefone. Die Apparate hefteten sich ihr an die Fersen, packten sie bei den Händen, rammten ihr die Hörer unter die Nase: Wähl! Wähl, und Nasar wird sagen: Ywha … Mein Füchslein, wo steckst du denn …
Sie biss sich auf die Lippe. Die Stimme war zu deutlich zu hören, als dass es sich um ein Phantasieprodukt handeln konnte; vielleicht war sie ja imstande, über die Entfernung hinweg Nasars Gedanken zu lesen. Vielleicht …
»Hallo.«
Beinah hätte Ywha aufgeschrien. Sie presste den Hörer so fest ans Ohr, bis es schmerzte.
»Hallo. Wer ist da?«
Ein spröde, angespannte Stimme. Ob er auf den Anruf gewartet hatte? Ob er ahnte, wer am anderen Ende schwieg und in den Hörer atmete?
Er musste es ahnen, begriff Ywha mit einem Frösteln. Es konnte gar nicht anders sein. Nach allem, was vorgefallen war — wer sollte da sonst anrufen und schweigen?!
»Ich verstehe Sie nicht«, sagte die monotone Stimme Nasars. »Ich verstehe Sie nicht … Hallo? Sagen Sie doch was!«
Sie wollte etwas sagen. Sie hatte schon tief Luft geholt und damit durch die Telefonleitung über viele Kilometer hinweg einen erstickten Laut geschickt: chha …
»Ich verstehe Sie nicht«, sagte Nasar wieder. »Versuchen Sie es bitte noch einmal.«
Freizeichen. Andauernd knallten sie aus dem Hörer: wie Gerten, mit denen man in alten Zeiten ungehorsame Kinder bestraft hatte.
Ganz vorsichtig legte Ywha den Hörer auf, trat jedoch nicht aus der Telefonzelle hinaus. Stattdessen beobachtete sie, wie die Tropfen des nach und nach einsetzenden Regens über die Scheibe rannen.
Platz des Siegreichen Sturms Nr. 8, Wohnung 4. Telefonnummer …
Telefonnummern hatte sie sich immer nur mit Mühe einprägen können. Wie sollte man sich auch eine Reihe bedeutungsloser Ziffern merken?
Doch diese Nummer hatte sich ihr ein für alle Mal in den Schädel gehämmert. Was für ein Hohn!
Oder machen ihre Visitenkarten das? Einmal gelesen — und schon behältst du die Angaben für immer im Gedächtnis?
Der Regen tropfte ihr in den Kragen. Unwillkürlich zog sie den Kopf ein.
Nachdem sie den ganzen Tag ziellos durch die Straßen gestreift war, stieß sie schließlich auf den Palast der Inquisition.
Seit ein paar Stunden umrundete sie ihn schon, umzingelte ihn, ging für eine Tasse billigen Kaffees in ein Café, bläute sich die Straßennamen ein und zog ihre Kreise enger und enger. Am Ende erhob sich vor ihr das hohe, recht neue, allerdings im klassischen Stil erbaute Gebäude mit dem spitzen, in den Himmel aufragenden Dach.
Wie ein Vogel vor einem Schlangennest verharrte Ywha an Ort und Stelle. Die Flügel der breiten Tür zierten kupferne Wappen mit der kursiv gehaltenen Inschrift: »Nieder mit dem Abschaum«. Dieser Abschaum, der bin ich, schoss es Ywha durch den Kopf. Sie presste ihre Tasche gegen die Brust.
Rechts neben dem Haupteingang befand sich eine kunstvolle Glastür. Vor ihr stand eine Reklametafel, nur dass anstelle der üblichen Werbung ein strenges Plakat darauf geklebt war. Ywha blinzelte. Der Nagel in ihrem Nacken schmerzte erbärmlich.
»Hexe, vergiss nie, dass die Gesellschaft dich nicht zurückweist. Erhebe dich über den Abschaum und lass dich registrieren, damit du eine gleichberechtigte und gesetzestreue Bürgerin wirst … Hängst du auch weiterhin dem Bösen an, so verdammst du dich selbst zu Kummer und Einsamkeit … Gemäß Artikel … des Gesetzbuches … Nichtregistrierung … wird mit gemeinnütziger Arbeit bestraft … in Tateinheit mit einem Verbrechen … wird sie vor das Gericht der Inquisition gestellt …«
Ywha schluchzte auf. Jetzt gleich würde sie diese Glastür öffnen und sich auf den Weg machen … zu allen anderen Bürgern, zu gleichberechtigten und gesetzestreuen Menschen wie Nasar. Wenn die Gesellschaft mich nicht zurückweist, warum weist du mich dann zurück?, grummelte sie innerlich. Bist du etwa besser als die Gesellschaft?!
Mit dem Handrücken wischte sich Ywha das kümmerliche Nass unter der Nase weg. Eine schmerzhafte Courage hatte sich ihrer bemächtigt, die ihr jedoch angenehmer vorkam als Verzweiflung oder Panik. Auf der Stelle würde sie den Großinquisitor anrufen. Schluss mit der albernen Grübelei! Aber wo war das Telefon?! Sie war doch voll von Telefonen, diese verdammte Stadt.
Energisch wählte ihre Hand die gesamte Nummer, von Anfang bis Ende, erst bei der letzten Sieben zögerte sie. Aber nur eine Sekunde.
Sie hoffte, ihre Erinnerung trüge sie. Dass die Nummer gar nicht existierte und eine automatische Ansage sie unverzüglich mit widerwärtiger, nasaler Stimme davon in Kenntnis setzte.
Es läutete. Der lange Ton des Freizeichens. In Ywhas Innernem vereiste alles.
Gleich würde eine geplagte Hausfrau an den Apparat gehen: »Wen?! Die Inquisition? Ich bitte Sie, unterlassen Sie solche Scherze! Sie haben sich verwählt.«
Wie oft hatte es schon geklingelt? Drei Mal oder fünf Mal? Der Herr Großinquisitor war ein viel beschäftigter Mann und selten zu Hause …
Beim achten Klingeln hatte sie sich fast beruhigt. Anstandshalber wollte sie das zehnte Klingeln noch abwarten — und dann wieder gehen. Vor allem, da die Entschlossenheit, die sie ans Telefon getrieben hatte, längst verflogen war.
»Hallo.«
Beinahe hätte Ywha den Hörer fallen lassen.
Eine kalte, etwas müde Stimme, die von weit her klang, als käme sie aus einer anderen Welt.
»Hallo, wer ist denn …«
Sie sollte unverzüglich die Gabel herunterdrücken. Den gefährlichen Faden kappen, den sie in ihrer Unvorsichtigkeit gespannt hatte, zwischen sich und …
»Wer ist da?«
Ywha befeuchtete sich die Lippen und streckte die Hand nach der Gabel aus.
»Bist du das, Ywha?«
Sie konnte ihre Hand nicht mehr aufhalten. Die eingeleitete Bewegung setzte sich fort, die Hand drückte auf die Gabel, und zwar so stark, dass sich die eisernen Hörner ihr schmerzhaft ins Fleisch bohrten.
Innerhalb von vierundzwanzig Stunden waren im Kreis Rjanka zehn Menschen infolge der Epidemie gestorben, hundertundacht erkrankt; die Schuld für diese Vorfälle wurde den Hexen zugeschoben. Die Nachrichten, die stündlich im Fernseher liefen, brachten unermüdlich das immer gleiche, reißerische Bild: eine junge Hexe mit Schaum vorm Mund, die in die Kamera schrie: »Das ist bloß der Anfang! Das ist bloß der Anfang! Wartet’s nur ab!« Eine Amateuraufnahme des Hexensabbats. Eine aufgelöste Menge. Mitten auf einem Platz war in einem Hexenfeuer ein Körper verbrannt worden. Klawdi nippte an dem heißen Kaffee, verzog jedoch das Gesicht, als handle es sich um Medizin.
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