Es spielte keine Rolle, wo sie sich trafen. Das Sakrament würde um Mitternacht vollzogen werden, genau dort, wo das Wesen mit den hochflackernden roten Haaren um Mitternacht sein würde. Unter dessen Füßen in diesem Augenblick sämtliche Straßenpflaster wie im Krampf zuckten. Es spielte keine Rolle, denn sie, die herbeieilten, damit sich ihr Schicksal erfülle, würden intuitiv das Zentrum der Bewegung wittern, den Punkt ihres, Ywhas, Weges, der gleichsam ein in die Erde eingelegtes Tor markierte, zu dem alle unsichtbaren Fäden führten, alle Adern und Schlingen, die sich nicht um ihre Kehle, sondern um ihre Seele legten. Welche Angst sie hatten, zu spät zu kommen! Wie sie liefen, sich die Füße blutig schürften, die Motoren antrieben, durch die Luft jagten, ihr mit allen Kräften, mit allem, was ihnen zu Gebote stand, entgegenstrebten!
Noch war die Zeit nicht reif. Allzu schwach zitterte noch die Nacht, allzu zögernd noch nahm sie, die Nacht, sie, Ywha, in sich auf. Allzu hoch wehten noch die gelben Banner des Mondes, dieses erschrockenen Mondes, der sich jedoch mit dem Unvermeidlichen abgefunden hatte. Allzu fern, allzu taub dröhnten noch die Trommeln.
Ywha erschauderte.
Vor ihr, auf dem Weg, der Linie, von der sie jetzt nie mehr abweichen würde, stand ein Leben, das hier nicht hergehörte. Ein blindes, böses Leben. Das zu schwach war, um sie aus dem Rhythmus zu bringen.
»Stehen geblieben! Das ist Sperrgebiet! Rühren Sie sich nicht von der Stelle!«
Ywha brach in schallendes Gelächter aus.
Ihr Gelächter berührte die Baumkronen, die über der Straße hingen und deren schwarz-weiße Blätter nun herabsegelten. Ihr Gelächter schüttelte ein schweres Armeefahrzeug, das die Straße versperrte, zog es langsam von der Stelle, entblößte auf dem Fahrdamm schwarze Streifen, setzte den Geruch verbrannten Gummis frei, drehte den Wagen um, kippte ihn und warf ihn weg.
Die Explosion erfolgte dann von selbst. Schreiende dunkle Figuren spritzten in alle Richtungen. Ywha ging weiter und beobachtete, wie sich die Flamme in ein Trauerband aus dickem Rauch einwickelte, wie sie sich von Wipfel zu Wipfel goss, lebte, neu aufzüngelte und sich gen Himmel erhob.
Sie schritt aus, die Erde mit den Sohlen kaum berührend. Das Feuer legte sich ihr zu Füßen, pulsierte an den Straßenrändern und stand reglos im Zenit. Sie durchquerte ein fuchsrotes Lagerfeuer, und die Flamme, die vom Anbeginn der Zeiten ihre Kinder verschlang, wagte es nicht, an ihren aufgestellten Feuerhaaren zu lecken.
Sie ging weiter. Schwarzer Rauch wob sich in die Nacht hinein und wurde zu einem Teil der Prozession.
Es gab keine Zeit mehr. Es gab nur noch feine Membranen von Sekunden, die sie, strikt dem Rhythmus folgend, zerriss. Eine Minute später — vielleicht auch eine Stunde — bemerkte sie vor sich eine weitere Absperrung. Ihre Nasenflügel blähten sich.
»Bleib stehen, Hexe!«
Sie glitt aus der großen Welt heraus und herrschte innerhalb des eigenen kleinen Körpers, dieses Pseudokörpers, denn ihr eigentlicher Körper lag über das Antlitz der Erde verteilt und hatte sich noch nicht wieder zusammengesetzt.
»Bleib stehen, Hexe! Du kommst hier nicht durch!«
Die Nacht bevölkerten mit einem Mal ungebetene, falsche Sterne, gelb-grüne Sterne, die flackernden Blinklichter des Tschugeister-Dienstes. In den majestätischen Rhythmus der Prozession flocht sich ein anderer, ungleichmäßiger, der alles erstickende Rhythmus eines fremden Tanzes. Eines tödlichen Tanzes.
»Stehen bleiben!«
Sie zügelte ihre Schritte nicht. Und sie lachte auch nicht mehr, als ihr aus der Dunkelheit eine Reihe von Menschen in Kunstpelzen entgegentrat, mit einer Silberkette um den Hals und einer silbernen Dienstmarke auf der Brust, mit einem irren Rhythmus in den Augen.
Unsichtbare Fäden spannten sich um ihre Opfer. Wie pulsierende Schläuche, die ihnen das Leben nahmen. Wie schwarze Rüssel, die ihnen die Seele heraussaugten.
Die weißen Augen von Taschenlampen blitzten auf. Eine mit einem Gelbfilter. Da musste Ywha blinzeln.
»Du? Du?!«
Ywha verzog die Lippen. So hätte auch der Himmel in ihrem Rücken seine Zähne blecken können, lautlos, einsam, mit einem fahlen Blitz.
Die Kette schwankte und fiel auseinander. Den Tschugeistern genügte ein einziger Blick in ihr Gesicht.
»Himmel steh uns bei!«
»Zurück! Komm zurück, Priw!«
Er war der Einzige, der sich nicht rührte. Versteinert stand er da, aufgespießt von ihrem starren Blick.
»Weg da, Priw! Geh ihr aus dem Weg!«
Lauter und lauter rief die Trommel. Der Himmel toste, über die Schalldecke gespannt. Diejenige, die jetzt die Straße hinunterschritt, nahm bloß ihr Recht wahr. Ihr unteilbares und gutes Recht.
Ohne langsamer zu werden, stieg sie über den Mann hinweg, der am Boden lag.
Eine Sekunde später — eine dünne Membran später, durchrissen von ihrem Körper — vergaß sie ihn, um sich nie wieder an ihn zu erinnern. Und nie stellte sie sich die Frage, ob er überlebt hatte.
Schwieriger als alles andere war es, aus der Stadt herauszukommen. In völliger Dunkelheit schlug er sich durch den Ort, umrundete Hindernisse und fuhr an Ruinen vorbei, während ihn der allgegenwärtige Rauch husten ließ. Der Geist, der sich nur mit dem Geruch des Schlachthofs vergleichen ließ, entfernte sich ein ums andere Mal, nur um sich sogleich wieder zu nähern. Der Graf hatte die gerade, fast freie Autobahn bereits erreicht, als Klawdi Starsh, der niemals raste, reinen Gewissens das Gaspedal durchtrat.
Rechts vor ihm loderte ein Gehöft. Die Flamme eines gigantischen Lagerfeuers griff nach dem Himmel, die Funken legten sich auf die Windschutzscheibe, wurden vom Wind gegen das Glas gepresst und glommen ein letztes Mal auf, bevor sie sich in schwarze Rußklumpen verwandelten. Das Feuermonster stand da, die Hände in die Hüften gestemmt, den Bart vom Wind zerzaust, und folgte mit dem Blick dem einzigen Punkt, der sich auf der langen Straße bewegte, dem Graf nämlich, der dem Ungewissen entgegenfuhr. Klawdi bleckte die Zähne.
Die Welt existierte nicht länger. Nichts von dem, was er normalerweise als seine Umwelt bezeichnete, gab es hier noch. Alles, was ihm einst so vertraut, was so unerschütterlich gewesen war, war aus den Fugen geraten; über der Menschheit hing ein Strudel, eine schwarze Windhose, die sich wie in Zeitlupe drehte, und, erfasst von ihrer gewaltigen Anziehungskraft, flogen Gesetze und Verpflichtungen, Normen und Bräuche, lebende Kühe, Gebäudeteile, entwurzelte Bäume und aus den Gräbern gerissene Särge durch die Luft.
Weiter und weiter trat Klawdi das Gaspedal durch. Sobald er im Fernlicht ein Hindernis entdeckte — ein umgekipptes Auto, von Flüchtlingen zurückgelassenen Hausrat oder einen auf die Straße geschmierten Körper –, biss er knirschend die Zähne zusammen und verschmolz mit seinem Wagen, diesem gehorsamen und treuen Gefährt, das sich widerspruchslos auf jedes Manöver einließ …
Als er irgendwann begriff, dass er mehr und mehr von der Richtung abkam, bog er zur Seite. Eine brennende Tanksäule beleuchtete seinen Weg, ein in Flammen stehendes Dorf, ein in der Ferne niederbrennendes Waldstück. Durch die Feuerherde lavierend, kam er rasch auf eine andere Straße, einen Feldweg, wendete und trat noch einmal das Pedal durch.
Das Auto schlotterte. Das Auto stöhnte. Schon seit geraumer Zeit beunruhigte ihn ein stechender Blick. Er begriff nicht auf Anhieb, dass ihn da, ohne einmal zu blinzeln, der tief hängende, gelbe Mond anstierte.
Die Straße riss immer weiter auf, was ihn zwang, das Tempo zu drosseln, damit er sich nicht vor der Zeit das Genick brach. Aus den Trümmern eines Holzverschlags flatterte ein weißes Huhn auf und stürzte, offenbar um den Verstand gebracht, gegen die Windschutzscheibe, schlug mit den Flügeln, hackte mit dem Schnabel auf diese ein, ohne sich um die aufstiebenden Federn zu scheren, und glotzte den Mann, der hinterm Steuer erstarrt war, voller Hass an.
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