Ich entfernte mich aus der Nähe des Ratszeltes.
»Wo ist Watonka?« hörte ich einen Mann fragen.
»Er ist noch nicht eingetroffen«, antwortete jemand.
»Macht er Medizin für die Versammlung?«
»Ich weiß es nicht.«
»Er wartet darauf, daß der Schatten schrumpft«, meinte ein Dritter. »Dann erst kommt er zur Versammlung.«
Ohne recht zu wissen, warum, machte ich mich auf den Weg zu den Isanna-Zelten.
Mit verschränkten Armen standen die drei Männer in der Nähe Watonkas, der sich auf eine kleine Anhöhe unweit der Isanna-Zelte begeben hatte. Ich war sicher, daß es sich um Gelbmesser handelte. Nicht daß sie sich auf den ersten Blick von den Kaiila-Kriegern unterschieden. Vielmehr schienen sie im Gesamteindruck anders zu sein, zweifellos das Zusammenwirken zahlreicher kleiner Einzelheiten – vielleicht die Anordnung der Perlenbestickung ihrer Kleidung, die Art und Weise, wie gewisse Ornamente geschnitzt waren, die Einkerbung ihrer Ärmel, die Art der Beinbefransung, die Bindung der Federn im Haar, Schnitt und Stil der Mokassins. Dieser Männer waren keine Kaiila. Sie waren Fremde. Starr und ausdruckslos standen sie da. Watonka schaute in südöstlicher Richtung zum Himmel empor. Zu seinen Füßen steckte ein dünner Stock im Boden. Ringsum waren zwei Kreise in den Staub gezeichnet, ein kleiner und ein großer. Am Morgen, wenn die Sonne hoch genug stand, um einen Schatten zu werfen, reichte dieser Schatten vermutlich bis zum Außenkreis. Zur Mittagszeit würde die Sonne ihren kürzesten Schatten werfen, der dann innerhalb des Innenkreises enden mußte. Begann sich der Schatten wieder auszudehnen, hatte die Sonne ihren höchsten Punkt überschritten. Ich schaute zur Sonne empor und dann auf den Stock und seinen Schatten. Meiner Schätzung nach war es noch eine halbe Ahn bis zur Mittagszeit.
Im deutlichen Gegensatz zu den drei Kriegern, die ich für Gelbmesser hielt, war Watonka nervös. Er schaute auf die Krieger und dann wieder in den Himmel. Es war ein heller, klarer Tag. Unweit der Männer standen auch Bloketu und Iwoso. Bloketu schien sich ebenfalls unbehaglich zu fühlen. Dagegen machte Iwoso wie die drei fremden Krieger einen gelassenen Eindruck. Diese sechs Gestalten – wie auch etliche andere Isanna-Krieger, die in der Nähe warteten, hatten sich mit gelben Schärpen geschmückt, die von der linken Schulter zur rechten Hüfte führten. Vermutlich sollten diese gelben Tücher sie als Mitglied der Friedensgruppe identifizieren und schützen. Die gelben Streifen mochten darüber hinaus eine Medizinwirkung haben, wie sie möglicherweise einem Beteiligten im Traum eingefallen war.
Ich wußte nicht, ob man Bloketu zur Ratsversammlung zulassen würde. Normalerweise haben Frauen an solchen Orten keinen Zutritt. Die roten Wilden hören sich zwar oft aufmerksam an, was ihre freien Frauen zu sagen haben, und begegnen ihnen ehren- und respektvoll, doch verzichten sie auf kein Quantum ihrer Oberherrschaft. Sie allein treffen alle Entscheidungen. Sie sind die Männer. Die Frauen gehorchen. Von Iwoso dagegen nahm ich an, daß sie im Ratszelt unentbehrlich sein würde. Wahrscheinlich war sie im Lager die einzige Person, die die Gelbmesser- und Kaiila-Sprachen fließend beherrschte. Interessanterweise trug sie ein dünnes, geschmeidiges Seil zusammengerollt an der Hüfte. Nach der Sonne und dem Schatten des Stocks zu urteilen, hätten sich Watonka und seine Begleiter längst auf den Weg zum Ratszelt machen müssen. Soweit ich wußte, sollte der Rat zur Mittagszeit zusammentreten. Mir fiel außerdem auf, daß die Art und Weise, wie die Männer ihre gelben Schärpen gebunden hatten, ihnen die größte Bewegungsfreiheit des Waffenarms gewährte, sollten sie Rechtshänder sein.
»Bloketu«, sagte ich und trat vor das Mädchen hin.
»Herrin!« forderte sie.
»Herrin.«
»Warum kniest du nicht nieder?«
Ich fiel auf die Knie. »Ich möchte bitte mit dir sprechen«, sagte ich.
»Es war dein Herr Canka«, sagte sie tadelnd, »der heute früh Mahpiyasapa umbringen wollte.«
»Kann ich dich mal sprechen?«
»Ja.«
»Allein.«
Iwoso warf mir einen scharfen Blick zu.
»Du kannst vor meiner Zofe sprechen«, sagte Bloketu. »Warum auch nicht? Warum sollte sich ein Sklave nicht vor einer anderen Sklavin äußern können?«
»Verzeih mir, Herrin«, sagte ich. »Vielleicht bin ich ein Dummkopf und ein Narr.«
»Das erscheint mir nicht unwahrscheinlich.«
»Aber ich habe Grund zu der Annahme, daß die drei Männer bei deinem Vater, die Gelbmesser, nicht das sind, was sie zu sein vorgeben.«
»Was meinst du?«
»Ich glaube, sie sind nicht Zivilhäuptlinge der Gelbmesser, sondern möglicherweise Kriegshäuptlinge.«
»Lügnerischer Sklave!« fauchte Iwoso, stürzte sich auf mich und schlug zu. Sofort schmeckte ich Blut in meinem Mundwinkel.
»Was geht hier vor?« fragte Watonka und blickte uns an.
»Dieser Sklave ist ein amüsanter Dummkopf«, sagte Bloketu lachend. »Er meint, unsere Gäste wären nicht Zivilhäuptlinge der Gelbmesser, die bald unsere Freunde sein werden, sondern Kriegshäuptlinge.«
Die Worte wurden den Gelbmessern von Iwoso übersetzt. Ihre Mienen blieben unbeweglich.
»Das ist absurd!« rief Watonka und sah sich hastig um. »Ich verbürge mich persönlich für diese Männer.«
»Du kannst unmöglich solche Informationen haben«, sagte Bloketu zu mir.
»Im Lager gibt es eine Sklavin«, sagte ich, »ein blondes Mädchen, das früher im Eigentum von Gelbmessern stand. Sie hat die Männer erkannt. Von ihr habe ich meine Informationen.«
»Sie muß sich offenkundig irren«, sagte Bloketu. Unser Gespräch wurde den Gelbmessern von Iwoso übersetzt.
»Lügenhaften Sklaven kann die Zunge herausgeschnitten werden«, sagte Watonka ärgerlich und zog seine Klinge.
In diesem Augenblick legte einer der Gelbmesser Watonka eine Hand auf den Arm. Er sagte etwas, und seine Worte wurden uns allen von Iwoso übersetzt.
»Tu dem Sklaven nichts«, sagte er. »Dies ist für uns alle eine Zeit des Glücks und des Friedens.«
Erstaunt hob ich den Kopf. Der Mann mußte wirklich ein Friedenshäuptling sein.
»Laß ihn gehen«, sagte der Gelbmesser.
»Verschwinde!« sagte Watonka aufgebracht.
»Ja, Herr«, sagte ich und stand auf.
»Schlagt ihn!« befahl Watonka zwei Isanna-Kriegern.
Diese gingen an die Arbeit und hämmerten mit den Schäften ihrer Lanzen auf mich ein. Ich hob die Hände an den Kopf und brach in die Knie. Schmerzhafte Schläge trafen mich an Schultern und Körper.
»Laßt ihn gehen«, sagte der Gelbmesser.
»Geh!« rief Watonka.
Ich mühte mich hoch und stolperte mit blutendem Gesicht und schmerzendem Leib fort. Hinter mir brandete Gelächter auf. Man hatte mich tüchtig durchgeprügelt. Anscheinend waren mir dabei keine Knochen gebrochen worden. Dafür mußte meine Haut bald schwarz und blau sein. Beinahe verlor ich das Bewußtsein, nahm mich aber zusammen und torkelte weiter. Ich hatte getan, was ich konnte: Ich hatte Oiputakes Information einem Manne überbracht, der im Kaiilastamm einen hohen Posten bekleidete, Watonka, dem Zivilhäuptling der Isanna. Es wollte mir scheinen, ich hätte nicht mehr erreichen können, außer vielleicht mit Mahpiyasapa zu sprechen. Plötzlich wallte irrationaler Zorn auf Mahpiyasapa und Grunt in mir auf, wie auch auf Canka und sogar meinen Freund Cuwignaka. Sie alle hatte ich nicht erreichen können. In meinem elenden Zustand wollte mir fast scheinen, als wären sie gewissermaßen für die Prügel verantwortlich, die ich bezogen hatte. Schließlich verbannte ich diesen törichten Gedanken aus meinem Kopf und machte mich auf den Rückweg zu dem Zelt, das ich mit Cuwignaka teilte.
Ich schätzte die Zeit auf etwa eine Viertel-Ahn vor der Mittagsstunde.
Читать дальше