Wenig später ging der Nahe Osten in Flammen auf.
Russland kollabierte.
Irgendeine Gruppierung – vermutlich im Exil lebende fanatische russische Hardliner – begann, Kernwaffen an Terrororganisationen, auch an die El Kaida, zu verkaufen.
»Im Jahr 1994 waren die Ölfelder dort drüben mit schwarzem Glas bedeckt«, sagte Harry mit seiner trockenen Stimme. »Von der Art, die im Dunkeln leuchtet. Seit damals ist der Terrorismus jedoch gewissermaßen ausgebrannt. Vor zwei Jahren hat jemand in Miami eine Kofferatombombe gezündet, aber das war kein großer Erfolg. Ich meine, es wird sechzig oder siebzig Jahre dauern, bevor es am South Beach wieder Strandpartys geben kann, und der Golf von Mexiko ist praktisch ein totes Gewässer – aber durch die Detonation sind nur zehntausend Menschen umgekommen. Allerdings war das schon nicht mehr unser Problem. Maine hat dafür gestimmt, sich Kanada anzuschließen, und President Clinton war gern bereit, uns ziehen zu lassen.«
»Bill Clinton ist Präsident?«
»Gott, nein. Er hätte die Nominierung für 2004 haushoch gewonnen, aber er ist auf dem Parteitag an Herzversagen gestorben. Seine Frau ist ihm nachgefolgt. Sie ist jetzt die Präsidentin.«
»Macht sie ihren Job gut?«
Harry zuckte die Achseln. »Nicht schlecht … aber Erdbeben ist mit Gesetzen nicht beizukommen. Und die werden uns letztlich erledigen.«
Über uns war wieder dieses wässrige Reißen zu hören. Ich sah auf. Harry nicht.
»Was ist das?«, fragte ich.
»Mein Sohn, das weiß anscheinend niemand«, sagte er. »Die Wissenschaftler streiten darüber, aber ich glaube, dass diesmal eher die Prediger eine Erklärung haben. Sie sagen, dass ist Gott, der sich bereit macht, seiner Hände Arbeit einzureißen, wie Samson den Tempel der Philister niedergerissen hat.« Harry trank seinen Whisky aus. Ein rosiger Schimmer überzog seine Wangen, die bemerkenswert frei von Strahlengeschwüren waren. »Und ich glaube, dass sie in diesem Punkt recht haben.«
»Allmächtiger!«, sagte ich.
Er betrachtete mich gelassen. »Haben Sie genug Geschichte gehört, mein Sohn?«
Genug für ein ganzes Leben.
4
»Ich muss gehen«, sagte ich. »Kommen Sie allein zurecht?«
»Bis ich’s nicht mehr tue. Genau wie jeder andere auch.« Er musterte mich prüfend. »Jake, von woher sind Sie reingeschneit? Und warum zum Teufel habe ich irgendwie das Gefühl, Sie zu kennen?«
»Vielleicht weil wir unsere Schutzengel immer kennen?«
»Schwachsinn.«
Ich wollte endlich weiter. Alles in allem glaubte ich, dass mein Leben nach dem nächsten Neustart viel einfacher sein würde. Aber weil dies ein guter Mann war, der in jeder seiner drei Inkarnationen viel durchlitten hatte, trat ich noch einmal an den Kaminsims und nahm eines der gerahmten Fotos herunter.
»Vorsichtig damit!«, sagte Harry leicht gereizt. »Das ist meine Familie.«
»Ja, ich weiß.« Ich legte es in seine knorrigen, altersfleckigen Hände, ein leicht unscharfes Schwarz-Weiß-Foto, das vielleicht von einem Kodak-Schnappschuss vergrößert worden war. »Hat Ihr Vater es aufgenommen? Das frage ich, weil er als Einziger nicht auf dem Bild ist.«
Er sah neugierig zu mir auf, dann betrachtete er wieder das Bild. »Nein«, sagte er. »Das Foto hat eine Nachbarin im Sommer 1958 gemacht. Meine Eltern hatten sich damals schon getrennt.«
Ich fragte mich, ob die Nachbarin die Frau gewesen war, die mit einer Zigarette im Mundwinkel abwechselnd die Familienkutsche gewaschen und den Familienhund nass gespritzt hatte. Irgendwie war ich mir sicher, dass sie es gewesen sein musste. Wie ein aus einem tiefen Brunnen kommendes Geräusch stiegen aus den Tiefen meiner Erinnerung die skandierenden Stimmen der Springseilmädchen auf: My old man drives a sub-ma-rine.
»Mein Vater hatte ein Alkoholproblem. Das war damals keine große Sache, viele Männer haben getrunken und sind trotzdem mit ihrer Frau unter einem Dach geblieben, aber er war bösartig, wenn er getrunken hatte.«
»Jede Wette war er das«, sagte ich.
Er betrachtete mich wieder, noch genauer, dann lächelte er. Seine Zähne fehlten größtenteils, aber sein Lächeln war durchaus freundlich. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie wissen, wovon Sie reden. Wie alt sind Sie, Jake?«
»Vierzig.« Obwohl ich in dieser Nacht bestimmt weit älter aussah.
»Also sind Sie 1971 geboren.«
Eigentlich war das 1976 gewesen, aber darauf konnte ich unmöglich beharren, ohne über die fünf fehlenden Jahre zu sprechen, die in den Kaninchenbau gefallen waren wie Alice ins Wunderland. »Stimmt ungefähr«, sagte ich. »Dieses Foto ist hinter dem Haus in der Kossuth Street gemacht worden.« Wie in Derry üblich ausgesprochen: Cossut.
Ich tippte auf Ellen, die links neben ihrer Mutter stand, und dachte dabei an die erwachsene Version, mit der ich telefoniert hatte – nennen wir sie Ellen 2.0. Und ich dachte – das war unvermeidlich – an Ellen Dockerty, die harmonische Version, die ich in Jodie gekannt hatte.
»Hier sieht man es nicht, aber sie war ein kleiner Rotschopf, oder nicht? Lucille Ball in klein.«
Harry sagte nichts, glotzte mich nur an.
»Ist sie Komikerin geworden? Oder hat sie was anderes gemacht? Rundfunk oder Fernsehen?«
»Sie hat als DJ eine eigene Sendung im Regionalsender der CBC«, sagte er mit schwacher Stimme. »Aber woher …«
»Hier ist Troy … und Arthur, auch als Tugga bekannt … und das sind Sie mit dem Arm Ihrer Mutter um die Schultern.« Ich lächelte. »Genau wie Gott es geplant hat.« Wenn’s nur so bleiben könnte. Wenn.
»Ich … Sie …«
»Ihr Vater ist ermordet worden, nicht wahr?«
»Ja.« Seine Nasenkanüle war verrutscht, und er korrigierte ihren Sitz mit den langsamen Bewegungen eines Menschen, der mit offenen Augen träumte. »Er ist auf dem Longview-Friedhof erschossen worden, als er Blumen aufs Grab seiner Eltern gelegt hat. Nur ein paar Monate nachdem dieses Foto gemacht worden ist. Die Polizei hat einen Mann namens Bill Turcotte verhaftet …«
Aua, das hatte ich nicht vorausgesehen.
»… aber er hatte ein unwiderlegbares Alibi, deshalb mussten sie ihn schließlich wieder laufen lassen. Der Täter ist nie gefasst worden.« Er ergriff meine Hand. »Mister … mein Sohn … Jake … das ist verrückt, aber … haben Sie meinen Vater erschossen?«
»Nein, natürlich nicht.« Ich nahm das Foto und hängte es wieder an die Wand. »Ich bin erst 1971 auf die Welt gekommen, schon vergessen?«
5
Ich ging langsam die Main Street entlang, zurück zu der abgebrannten Weberei und dem aufgegebenen Quik-Flash-Supermarkt vor ihr. Ich ging mit gesenktem Kopf, ohne nach Keine Nase und Blanker Hintern und den Rest dieser fröhlichen Schar Ausschau zu halten. Falls sie noch irgendwo in der Nähe waren, würden sie einen weiten Bogen um mich machen, davon war ich überzeugt. Sie hielten mich für verrückt. Vielleicht war ich das ja auch.
Wir sind hier alle verrückt, hatte die Grinsekatze zu Alice gesagt. Dann war sie verschwunden. Das heißt, bis auf ihr Grinsen. Soweit ich mich erinnere, blieb es noch eine Weile zurück.
Ich verstand jetzt mehr. Natürlich nicht alles. Ich bezweifle sogar, dass die Kartenmänner alles verstehen (und sobald sie einige Zeit Dienst getan haben, verstehen sie fast nichts mehr), aber auch das half mir nicht bei der Entscheidung, die ich zu treffen hatte.
Als ich mich unter der Kette hindurchbückte, detonierte in weiter Ferne etwas. Ich zuckte nicht einmal zusammen. Vermutlich gab es jetzt viele Detonationen. Wenn die Menschen erst einmal anfingen, die Hoffnung zu verlieren, kam es schon fast zwangsläufig zu Detonationen.
Ich betrat die Toilette hinter dem kleinen Supermarkt und wäre beinahe über meine Lammfelljacke gestolpert. Ich beförderte sie mit einem Tritt zur Seite – an meinem Zielort würde ich sie nicht brauchen – und ging langsam zu den aufgestapelten Kartons hinüber, die Lees Scharfschützennest so ähnlich sahen.
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