»Hast du ’n paar alte Dollarscheinchen für uns, Opa? Oder vielleicht neue oder Konserven?«
»Nein! Haut wenigstens ab, und lasst mich in Ruhe, wenn ihr schon nicht den gottverdammten Anstand habt, mich aus dem Loch hier rauszuschieben!«
Aber sie wollten Randale und würden nichts tun, um ihm zu helfen. Sie würden ihm rauben, was er an Kleinzeug bei sich hatte, ihn vielleicht zusammenschlagen und ihn ganz sicher umwerfen.
Jake und George kamen zusammen, und beide sahen rot.
Die wilden Jungen hatten nur Augen für den alten Knacker im Rollstuhl und sahen nicht, dass ich schräg auf sie zukam – genau wie ich den fünften Stock des Buchlagers durchquert hatte. Mein linker Arm taugte noch immer nicht viel, aber der rechte war völlig in Ordnung, nach dreimonatigem Training durch die Krankengymnastik erst im Parkland, dann im Eden Fallows. Und ich hatte mir einiges von der Treffsicherheit bewahrt, mit der ich in der Highschool dritter Baseman der Schulmannschaft gewesen war. Ich warf den ersten Betonbrocken aus zehn Metern Entfernung und traf den Jungen, der mir den blanken Hintern gezeigt hatte, an der Brust. Er schrie vor Schmerz und Überraschung auf. Alle Jungen – es waren insgesamt fünf – wandten sich nun mir zu. Dabei sah ich, dass sie im Gesicht so entstellt wie die verängstigte Frau waren. Der mit der Steinschleuder, der junge Meister Verpiss-dich, sah am schlimmsten aus. Wo seine Nase hätte sein sollten, gähnte nur ein Loch.
Ich flippte den zweiten Betonbrocken von der linken in die rechte Hand und warf ihn auf den größten Jungen. Er trug eine ungeheuer weite, übergroße Hose, deren Bund bis fast zum Brustbein hochgezogen war. Er hob abwehrend einen Arm. Der Betonbrocken traf mit voller Gewalt und schlug ihm seinen Joint aus den Fingern. Nach einem Blick auf mein Gesicht machte der Junge kehrt und ergriff die Flucht. Der eine, der mir den blanken Hintern gezeigt hatte, folgte ihm. Nun waren noch drei übrig.
»Machen Sie sie fertig, mein Sohn!«, rief der Alte im Rollstuhl schrill. »Sie haben’s bei Gott verdient!«
Das hatten sie bestimmt, aber sie waren mir auch zahlenmäßig überlegen. Wenn man es mit Teenagern zu tun hatte, konnte man in solchen Situationen nur die Oberhand behalten, wenn man keine Angst, sondern nur echten Erwachsenenzorn erkennen ließ. Man griff einfach weiter an, und genau das tat ich. Ich packte den jungen Meister Verpiss-dich mit der Rechten an seinem zerlumpten T-Shirt und entriss ihm mit der Linken die Steinschleuder. Er starrte mich mit vor Angst aufgerissenen Augen an, ohne Widerstand zu leisten.
»Du miese Memme«, sagte ich und brachte mein Gesicht dicht an seines heran, ohne auf die fehlende Nase zu achten. Er roch verschwitzt und nach Marihuana und völlig verdreckt. »Was für ein Arschloch muss man sein, um einen alten Mann im Rollstuhl zu überfallen?«
»Wer sind Sie über…«
»Charlie Fucking Chaplin. Ich war in Frankreich, nur um die Ladys tanzen zu sehen. Jetzt sieh zu, dass du verschwindest.«
»Geben Sie mir meine …«
Ich wusste, was er wollte, und knallte ihm die Schleuder auf die Stirnmitte. Der Schlag ließ aus einem der Geschwüre Eiter tropfen und musste verdammt wehgetan haben, denn in seinen Augen standen plötzlich Tränen. Das Ganze erfüllte mich mit Widerwillen und Mitleid zugleich, aber ich bemühte mich, mir nichts davon anmerken zu lassen. »Alles, was du kriegst, Arschloch, ist eine Chance, schleunigst abzuhauen, bevor ich dir deine wertlosen Eier abreiße und in das Loch stopfe, wo früher deine Nase war. Eine Chance. Nutze sie.« Ich holte tief Luft und schrie ihm dann in einem Nebel aus Lärm und Speichel ins Gesicht: »Lauf!«
Ich beobachtete, wie sie flüchteten, und empfand dabei zu etwa gleichen Teilen Scham und Jubel. Der alte Jake hatte es großartig verstanden, in den Schulstunden am Freitagnachmittag vor Ferienbeginn für Ruhe zu sorgen, aber zu sehr viel mehr hatten seine Fähigkeiten nicht gereicht. Der neue Jake bestand jedoch zum Teil aus George. Und George hatte verdammt viel durchgemacht.
Hinter mir war ein heftig bellender Hustenanfall zu hören, der mich an Al Templeton denken ließ. Als er vorüber war, sagte der Alte: »Junger Mann, ich hätte freiwillig fünf Jahre lang Nierensteine gepisst, bloß um zu sehen, wie diese bösartigen Idioten die Beine unter den Arm nehmen. Ich weiß nicht, wer Sie sind, aber ich hab noch etwas Glenfiddich in meiner Anrichte stehen – das gottverdammte echte Zeug –, und wenn Sie mir aus diesem beschissenen Schlagloch helfen und mich nach Hause schieben, teile ich ihn mir mit Ihnen.«
Der Mond hatte sich wieder versteckt, aber als er durch die nächste in der Wolkendecke aufreißende Lücke schien, sah ich das Gesicht des Alten. Er trug einen langen, weißen Bart, und in seiner Nase steckte eine Kanüle, aber selbst nach fünf Jahren hatte ich keinerlei Schwierigkeiten, den Mann zu erkennen, der mich in diese missliche Lage gebracht hatte.
»Hallo, Harry«, sagte ich.
1
Er wohnte immer noch in der Goddard Street. Ich schob ihn die Rampe zur Veranda hinauf, wo er einen schrecklich großen Schlüsselbund aus der Tasche zog. Den brauchte er auch. Die Haustür besaß nicht weniger als vier Schlösser.
»Ist das Haus gemietet, oder gehört es Ihnen?«
»Oh, es gehört ganz mir«, sagte er. »Klein, aber mein.«
»Schön für Sie.« Früher hatte er zur Miete gewohnt.
»Sie haben mir immer noch nicht gesagt, woher Sie meinen Namen wissen.«
»Gönnen wir uns erst den Drink. Ich kann einen brauchen.«
Gleich hinter der Haustür lag ein Wohnzimmer, das die vordere Hälfte des Hauses einnahm. Er sagte »Brrr!«, als wäre ich ein Pferd, und zündete eine Coleman-Gaslampe an. Ihr Licht zeigte mir Möbel von der Art, die man als alt, aber noch brauchbar bezeichnete. Auf dem Fußboden lag ein schöner Webteppich. An keiner der Wände hing ein GED-Diplom – und natürlich kein eingerahmter Aufsatz zum Thema »Der Tag, der mein Leben veränderte« –, aber es gab massenhaft religiöse Symbole und viele Fotos. Für mich kam es nicht überraschend, dass ich einige der Abgebildeten erkannte. Schließlich hatte ich sie früher gekannt.
»Schließen Sie hinter sich ab, ja?«
Ich sperrte das düstere, beunruhigende Lisbon Falls aus und schob die beiden Riegel vor.
»Den Schlossriegel auch, wenn’s recht ist.«
Ich drehte den Knopf und hörte den Riegel laut klackend einrasten. Harry rollte inzwischen durch sein Wohnzimmer und zündete die gleichen Petroleumlampen mit hohen Glaszylindern an, an die ich mich noch vage aus Grandma Saries Haus erinnerte. Sie gaben schöneres Licht als die Gaslampe, und als ich deren grelles, weißes Leuchten abdrehte, nickte Harry Dunning zustimmend.
»Wie heißen Sie, Sir? Meinen Namen kennen Sie ja schon.«
»Jake Epping. Der Name kommt Ihnen nicht bekannt vor, hab ich recht?«
Harry überlegte und schüttelte dann den Kopf. »Sollte er das?«
»Vermutlich nicht.«
Er streckte die Hand aus. Sie zitterte leicht wie von irgendeiner beginnenden Lähmung. »Ich möchte Ihnen trotzdem die Hand schütteln. Das hätte schlimm ausgehen können.«
Ich schüttelte ihm bereitwillig die Hand. Hallo, neuer Freund. Hallo, alter Freund.
»Okay, nachdem das erledigt ist, können wir guten Gewissens trinken. Ich hole uns den Single Malt.« Er rollte in Richtung Küche und drehte die Räder mit Armen, die leicht zittrig, aber immer noch kräftig waren. Der Rollstuhl hatte einen kleinen Elektromotor, aber der war anscheinend kaputt – oder Harry wollte die Batterie schonen. Unterwegs sah er sich nach mir um. »Sie sind nicht gefährlich, stimmt’s? Für mich, meine ich.«
»Nicht für Sie, Harry«, sagte ich lächelnd. »Ich bin Ihr Schutzengel.«
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