Auf halbem Weg über die menschenleere Kreuzung ließ mich ein lautes, wässriges Reißen erstarren. Das einzige Ding, von dem ich mir vorstellen konnte, dass es ein Geräusch dieser Art machte, wäre irgendein exotisches Flugzeug aus Eis gewesen, das zerschmolz, während es die Schallmauer durchbrach. Der Boden unter mir bebte kurz. Die Alarmanlage eines Autos heulte los, dann verstummte sie wieder.
Erdbeben in Las Angel-ies, dachte ich. Siebentausend Tote.
Auf der Route 196 näherten sich Scheinwerfer, und ich sah zu, dass ich den gegenüberliegenden Gehsteig erreichte. Das Fahrzeug erwies sich als kastenförmiger kleiner Bus, in dessen beleuchteter Fahrzielanzeige RINGLINIE stand. Das weckte eine schwache Erinnerung, aber ich wusste nicht, woran. Vermutlich irgendeine Harmonie. Auf dem Dach des Busses sah ich mehrere große Rotoren, die an Lüfter erinnerten. Vielleicht Windturbinen? War das möglich? Ich hörte keinen Verbrennungsmotor, lediglich ein schwaches elektrisches Summen. Ich wartete, bis der liegende, breite Halbmond des einzelnen Schlusslichts außer Sicht war.
Okay, also wurden in dieser Version der Zukunft – in diesem Strang, um Zack Langs Ausdruck zu übernehmen – Verbrennungsmotoren allmählich ausgemustert. Das war doch eine gute Sache, oder nicht?
Schon möglich, aber die Luft fühlte sich schwer, irgendwie unbelebt an, wenn ich sie einatmete, und enthielt einen Nachgeruch, der mich daran erinnerte, wie der Transformator meiner Lionel-Modelleisenbahn gerochen hatte, wenn ich ihn als kleiner Junge überlastet hatte. Zeit, ihn abzustellen und ein bisschen ausruhen zu lassen, hatte mein Vater dann gesagt.
Entlang der Main Street gab es ein paar Geschäfte, die halbwegs zu florieren schienen, aber die meisten lagen in Trümmern. Der Gehsteig war von Rissen durchzogen und mit Abfällen übersät. Ich sah ein halbes Dutzend geparkter Autos, die alle entweder Hybridantrieb hatten oder mit diesen Dachrotoren ausgerüstet waren. Einer war ein Honda Zephyr, ein weiterer ein Takuro Spirit, ein dritter ein Ford Breeze. Sie sahen ziemlich alt aus, und von einigen fehlten bereits Teile. Alle hatten an der Frontscheibe einen rosa Aufkleber, dessen schwarzen Aufdruck ich auch im Düsteren lesen konnte: PROVINZ MAINE BERECHTIGUNG »A« ZUTEILUNGSKARTE UNAUFGEFORDERT VORWEISEN.
Auf der anderen Straßenseite standen Jugendliche lachend und schwatzend in einer Gruppe beisammen. »He!«, rief ich zu ihnen hinüber. »Hat die Bücherei noch geöffnet?«
Sie wandten sich mir zu. Ich sah das Glühwürmchenleuchten von Zigaretten … nur stammte der zu mir herüberwehende Duft unverkennbar von Gras. »Verpiss dich, Mann!«, rief einer von ihnen zurück.
Ein anderer drehte sich um, zog die Hose herunter und zeigte mir seinen blanken Hintern. »Wenn du hier hinten Bücher findest, gehören sie dir!«
Allgemeines Gelächter, dann gingen sie weiter, redeten leiser und sahen sich dabei mehrmals um.
Dass mir ein blanker Hintern hingestreckt wurde, machte mir nichts aus – es war nicht das erste Mal gewesen –, aber mir gefielen ihre Blicke nicht – und die gesenkten Stimmen noch weniger. Vielleicht enthielten sie etwas Verschwörerisches. Jake Epping glaubte das zwar nicht so recht, George Amberson dagegen schon; George hatte bereits viel durchgemacht, daher war es George, der sich bückte, zwei faustgroße Betonbrocken aufhob und sich für alle Fälle in die Jeanstaschen stopfte. Jake hielt das für albern, widersprach aber nicht.
Eine Straße weiter endete das Geschäftsviertel (so bescheiden es war) abrupt. Ich sah eine ältere Frau, die den Gehsteig entlanghastete und nervös zu den Jungen hinübersah, die jetzt auf der anderen Seite der Main Street einen kleinen Vorsprung vor mir hatten. Sie trug ein Kopftuch und etwas, was wie ein Beatmungsgerät aussah, das Menschen mit chronischer Bronchitis oder fortgeschrittenem Lungenemphysem trugen.
»Ma’am, wissen Sie, ob die Bücherei …«
»Lassen Sie mich in Ruhe!« Ihre Augen waren angstvoll geweitet. Weil der Mond gerade durch eine Wolkenlücke schien, sah ich, dass ihr Gesicht mit Geschwüren bedeckt war. Das unter dem rechten Auge schien sich bis zum Knochen durchgefressen zu haben. »Ich hab einen Schein, dass ich unterwegs sein darf, er ist vom Stadtrat abgestempelt, also lassen Sie mich in Ruhe! Ich will meine Schwester besuchen! Diese Jungs sind schlimm drauf und werden bald Randale machen. Wenn Sie mich anfassen, drücke ich meinen Rufknopf, und dann kommt ein Wachtmeister!«
Irgendwie bezweifelte ich das.
»Ma’am, ich möchte nur wissen, ob die Bücherei noch …«
»Die ist seit Jahren geschlossen, und die Bücher sind alle weg! Da finden jetzt Hassversammlungen statt. Lassen Sie mich bloß in Ruhe, sage ich, sonst rufe ich einen von den Ordnungshütern!«
Sie huschte weiter und sah sich alle paar Sekunden um, ob ich ihr auch wirklich nicht folgte. Ich ließ sie einen beruhigend großen Vorsprung gewinnen, dann ging ich weiter die Main Street entlang. Mein Knie hatte sich von der Jagd die Treppe im Schulbuchlager hinauf etwas erholt, aber ich hinkte noch und würde es wohl noch eine Weile tun. In einigen Häusern brannte hinter geschlossenen Vorhängen Licht, aber ich war mir ziemlich sicher, dass es nicht vom Elektrizitätswerk Central Maine Power kam. Das waren Coleman-Gaslampen, in einigen Fällen wohl auch Petroleumlampen. Die meisten Häuser waren dunkel. Manche waren brandgeschwärzte Ruinen. An einer dieser Ruinen prangte ein Hakenkreuz, an eine andere hatte jemand JUDENRATTE gesprüht.
Diese Jungs sind schlimm drauf und werden bald Randale machen.
Und … hatte sie wirklich Hassversammlungen gesagt?
Vor einem der wenigen Häuser, die nicht verfallen wirkten – eine Villa im Vergleich zu den meisten anderen –, sah ich eine lange Pferdestange wie aus einem Western. Und hier waren wirklich Pferde angebunden gewesen. Als der Mond wieder einmal hinter den Wolken hervorkam, sah ich Pferdeäpfel, manche davon frisch. Die Einfahrt war mit einem Tor gesichert. Weil der Mond sich wieder versteckt hatte, konnte ich das Schild an den schmiedeeisernen Stäben nicht lesen, aber ich wusste auch so, dass dort ZUTRITT VERBOTEN stand.
Dann hörte ich, wie jemand nicht allzu weit vor mir ein einziges Wort sagte: »Arschloch!«
Die Stimme klang nicht jung, nicht wie die eines der wilden Jungen, und sie kam eher von meiner als von ihrer Straßenseite. Der Kerl schien sauer zu sein. Und er redete anscheinend mit sich selbst. Ich ging auf den Klang seiner Stimme zu.
»Blöder Wichser! «, rief der Mann ärgerlich. »Feige Sau! «
Der Mann war ungefähr eine Straße weit entfernt. Bevor ich ihn erreichte, hörte ich ein laut hallendes, metallisches Dröhnen, und der Mann rief: »Haut bloß ab! Gottverdammte rotznäsige kleine Hundesöhne! Haut ab, bevor ich meine Pistole ziehe!«
Seine Drohung wurde mit höhnischem Gelächter quittiert. Es waren die kiffenden wilden Jungen, und der eine, der mir den blanken Hintern gezeigt hatte, antwortete spöttisch: »Deine einzige Pistole ist die in deiner Hose, und ich wette, dass der Lauf mächtig schlaff ist!«
Wieder Gelächter. Dann war ein metallischer, hoher Spannng -Laut zu hören.
»Ihr Scheißkerle, jetzt ist eine von meinen Speichen kaputt!« Während der Mann sie anbrüllte, schwang in seiner Stimme unterschwellige Angst mit. »Nee, nee, bleibt auf eurer gottverdammten Seite!«
Die Wolken rissen wieder auf. Der Mond blinzelte hervor. Sein ungewisses Licht zeigte mir einen alten Mann in einem Rollstuhl. Er hatte eine der Querstraßen der Main Street – die Goddard Street, wenn sie nicht umgetauft worden war – halb überquert. Dabei war er mit einem Rad in ein ziemlich tiefes Schlagloch geraten, sodass der Rollstuhl wie besoffen nach links kippte. Die Jungen kamen auf ihn zu. Der eine, der mir »Verpiss dich!« zugerufen hatte, trug eine Steinschleuder mit einem ziemlich großen Kiesel darin. Das erklärte die metallischen Geräusche, die ich gehört hatte.
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