Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht.
Vielleicht würde sie jetzt nichts mehr mit mir zu tun haben wollen. Wir sind nicht mehr fünfunddreißig und achtundzwanzig; diesmal wäre ich zwei- oder dreiundvierzig. Und ich sehe noch älter aus. Aber ich glaube nun mal an die Macht der Liebe; Liebe ist eine einzigartig bewegliche Zauberkraft. Ich bezweifle, dass sie in den Sternen steht, aber ich glaube, dass Blut an Blut appelliert, Verstand an Verstand und Herz an Herz.
Sadie, die lachend und mit geröteten Wangen den Madison tanzt.
Sadie, die mich auffordert, noch mal ihre Lippen zu lecken.
Sadie, die mich fragt, ob ich hereinkommen und Napfkuchen essen möchte.
Ein Mann und eine Frau. Ist das zu viel verlangt?
Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht.
Was habe ich hier gemacht, werden Sie fragen, seit ich nun meine Schutzengelfittiche abgelegt habe? Ich habe geschrieben. Ich besitze einen Füller – den Mike und Bobbi Jill mir geschenkt haben, wissen Sie noch? – und bin die Straße entlang zum Supermarkt gegangen, in dem ich eine Großpackung Tintenpatronen gekauft habe. Die Tinte ist schwarz, was zu meiner Stimmung passt. Ich habe auch zwei Dutzend dicke Notizblöcke gekauft und alle bis auf den letzten vollgeschrieben. Gleich neben dem Supermarkt gibt es eine Filiale von Western Auto, in der ich einen Spaten und eine Stahlkassette mit Zahlenschloss gekauft habe. Für alle meine Einkäufe habe ich siebzehn Dollar und neunzehn Cent gezahlt. Reichen diese Dinge aus, um die Welt in Dreck und Dunkelheit zu stürzen? Was wird dem Verkäufer zustoßen, dessen vorgezeichneter Weg sich allein durch unsere geschäftliche Transaktion verändert hat?
Ich weiß es nicht, aber ich weiß Folgendes: Ich habe einmal einem Footballspieler aus der Highschool die Chance gegeben, als Schauspieler zu glänzen – und daraufhin ist sein bester Freund tödlich verunglückt. Seine Freundin ist entstellt worden. Man könnte sagen, das sei nicht meine Schuld gewesen, aber wir wissen es besser, oder? Der Schmetterling breitet die Flügel aus.
Drei Wochen lang habe ich täglich den ganzen Tag über geschrieben. An manchen Tagen zwölf Stunden. An anderen vierzehn. Die Feder glitt wie im Rausch übers Papier. Meine Hand schmerzte. Ich badete sie, dann schrieb ich weiter. An manchen Abenden ging ich ins Autokino von Lisbon und zahlte den ermäßigten Preis für Fußgänger: 30 Cent. Ich saß auf einem der Klappstühle zwischen Snackbar und Kinderspielplatz. Ich sah mir noch einmal Der lange heiße Sommer an. Ich sah mir Die Brücke am Kwai und South Pacific an. Ich sah mir eine GRUSELIGE DOPPELVORSTELLUNG an, die aus Die Fliege und Blob – Schrecken ohne Namen bestand. Und ich fragte mich, welche Veränderungen ich dadurch bewirkte. Selbst wenn ich nur eine Mücke erschlug, fragte ich mich, was sich dadurch in zehn Jahren ändern würde. Oder in zwanzig. Oder in vierzig.
Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht.
Hier ist etwas, was ich weiß. Die Vergangenheit ist aus demselben Grund unerbittlich, aus dem ein Schildkrötenpanzer hart ist: weil das lebende Fleisch darunter zart und schutzlos ist. Hier ist noch etwas, was ich weiß. Die vielfältigen Alternativen und Möglichkeiten des Alltags sind die Musik, zu der wir tanzen. Sie sind wie die Saiten einer Gitarre. Wenn man sie anschlägt, erzeugt man angenehme Töne. Eine Harmonie. Aber dann kommen weitere Saiten hinzu. Zehn Saiten, hundert Saiten, tausend, eine Million. Weil sie sich vervielfachen! Harry wusste nicht, was das wässrige Reißen im Himmel war, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es das Geräusch von allzu vielen Harmonien war, erzeugt von allzu vielen Saiten.
Wenn man laut und rein genug ein hohes C singt, kann man edles Kristallglas zerspringen lassen. Lässt man seine Stereoanlage die richtigen harmonischen Noten laut genug spielen, kann man Fensterglas zerspringen lassen. Daraus folgt (zumindest für mich), dass man die Realität zerspringen lassen kann, wenn man das Instrument der Zeit mit genügend Saiten bestückt.
Aber der Neustart ist jedes Mal fast vollständig. Gewiss, er hinterlässt Rückstände. Das hatte der Mann mit der ockerfarbenen Karte gesagt, und ich glaubte ihm. Aber wenn ich keine großen Veränderungen verursache … wenn ich nichts tue, außer nach Jodie zu ziehen und Sadie erneut zum ersten Mal zu begegnen … falls wir uns verlieben sollten …
Das wünsche ich mir, und ich glaube, dass es wahrscheinlich auch so kommen würde. Blut appelliert an Blut, Herz appelliert an Herz. Sie wird Kinder wollen. Deshalb will ich sie auch. Ich rede mir ein, dass ein Kind mehr oder weniger nichts ausmachen wird. Zumindest nicht groß . Oder zwei. Sogar drei. (Es ist schließlich die Ära großer Familien.) Wir werden unauffällig leben. Wir werden keine Wellen schlagen.
Nur ist jedes Kind schon eine Welle.
Jeder Atemzug, den wir machen, ist eine Welle.
Du musst noch mal zurückgehen, hatte der Mann mit der ockerfarbenen Karte gesagt. Du musst den Kreis schließen. Hier geht’s nicht ums Wollen.
Darf ich wirklich in Betracht ziehen, die Welt – vielleicht sogar die Realität selbst – für die Frau, die ich liebe, aufs Spiel zu setzen? Dagegen wirkt sogar Lee Oswalds Verrücktheit harmlos.
Der Mann mit der Karte im Hutband wartet neben dem Trockenschuppen auf mich. Ich kann ihn dort spüren. Vielleicht sendet er nicht gerade richtige Gedankenwellen, aber so kommt es mir vor. Komm zurück. Du brauchst nicht der Jimla zu sein. Es ist noch nicht zu spät, wieder Jake zu sein. Der gute Kerl, der Schutzengel. Versuch nicht, den Präsidenten zu retten; rette die Welt. Tu’s, solange noch Zeit ist.
Ja.
Das werde ich.
Wahrscheinlich werde ich es tun.
Morgen.
Morgen ist doch früh genug, oder?
1. 10. 58
Immer noch hier im Tamarack. Immer noch schreibe ich.
Meine Ungewissheit, was John Clayton betrifft, ist das Schlimmste. An Clayton habe ich gedacht, als ich die letzte Tintenpatrone in meinen bewährten Füller geschraubt habe, und an ihn denke ich jetzt. Wenn ich wüsste, dass sie vor ihm sicher sein wird, könnte ich loslassen, glaube ich. Wird John Clayton auch dann in Sadies Haus in der Bee Tree Lane aufkreuzen, wenn ich mich aus der Gleichung herauskürze? Vielleicht hat die Tatsache, dass er uns zusammen gesehen hat, ihm den Rest gegeben. Aber er war ihr, schon bevor er von uns wusste, nach Texas gefolgt, und wenn er es wieder tut, könnte er ihr diesmal die Kehle durchschneiden, statt nur ihr Gesicht zu entstellen. Deke und ich würden jedenfalls nicht dort sein, um ihn daran zu hindern.
Nur hatte er vielleicht von uns gewusst. Sadie konnte einer Freundin daheim in Savannah geschrieben haben, und diese Freundin konnte einer anderen Freundin etwas erzählt haben, und die Nachricht, dass Sadie einen Freund hatte – einen Kerl, dem die Notwendigkeiten des Besenstiels unbekannt waren –, konnte schließlich ihrem Ex zu Ohren gekommen sein. Wenn das alles nicht passierte, eben weil es mich gar nicht gab, würde Sadie nichts geschehen.
Die Dame oder der Tiger?
Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht.
Das Wetter beginnt herbstlich zu werden.
6. 10. 58
Gestern Abend war ich im Autokino. Es ist das letzte Wochenende der Saison. Am Montag werden sie ein Spruchband anbringen, auf dem ÜBER DEN WINTER GESCHLOSSEN und etwas wie 1959 DOPPELT SO GUT! steht. Das abschließende Programm bestand aus zwei kurzen Blöcken, einem Zeichentrickfilm mit Bugs Bunny und zwei Gruselfilmen: Macabre und Schrei, wenn der Tingler kommt. Ich saß auf meinem gewohnten Klappstuhl und sah mir Macabre an, ohne den Film richtig zu sehen. Es war kalt. Ich habe genug Geld, um mir eine Jacke zu kaufen, aber ich fürchte mich davor, allzu viel zu kaufen. Ich muss immer daran denken, welche Veränderungen das auslösen könnte.
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