Nach dem ersten Gruselfilm ging ich jedoch in die Snackbar. Ich wollte einen heißen Kaffee. (Wobei ich dachte: Das kann nicht viel verändern, aber auch: Woher willst du das wissen? ) Als ich wieder herauskam, war nur ein einziges Kind auf dem Spielplatz, der noch vor nur einem Monat in der Pause voll gewesen wäre. Ein kleines Mädchen, das zu einer leuchtend roten Hose eine Jeansjacke trug. Sie hatte ein Springseil und sah aus wie Rosette Templeton.
»I went down the road, the road was a-muddy«, skandierte die Kleine. »I stubbed my toe, my toe was a-bloody. You all there? Count two an three an four an fi’! My true love’s a butterfly! «
Ein Schmetterling! Ich konnte nicht bleiben. Ich zitterte zu sehr.
Vielleicht können Dichter die Welt der Liebe opfern, aber nicht gewöhnliche kleine Leute wie ich. Falls der Kaninchenbau noch da ist, gehe ich morgen zurück. Aber bevor ich das tue …
Kaffee war nicht das Einzige, was ich in der Snackbar gekauft habe.
7. 10. 58
Die Stahlkassette von Western Auto steht mit offenem Deckel auf dem Bett. Der Spaten lehnt im Kleiderschrank (keine Ahnung, was das Zimmermädchen von ihm hält). Die letzte Tintenpatrone ist fast leer geschrieben, aber das ist in Ordnung; noch zwei bis drei Seiten, dann bin ich am Ende angelangt. Ich werde das Manuskript in die Kassette legen und sie in der Nähe des Teichs vergraben, in dem ich mein Handy entsorgt habe. Ich werde sie tief in dem weichen, dunklen Boden vergraben. Vielleicht findet sie eines Tages jemand. Vielleicht sind Sie dieser Jemand. Das heißt, wenn es eine Zukunft und damit auch Sie gibt. Das ist etwas, was ich bald herausfinden werde.
Ich sage mir (hoffnungsvoll, ängstlich), dass meine drei Wochen im Tamarack nicht viel verändert haben können; Al hat vier Jahre in der Vergangenheit verbracht und ist in eine intakte Gegenwart zurückgekehrt … obwohl ich zugeben muss, dass ich mich gefragt habe, ob es vielleicht einen Zusammenhang zwischen Al und dem Terroranschlag auf das World Trade Center gab. Ich sage mir jedes Mal, es gibt keinen … aber ich frage mich trotzdem.
Ich sollte Ihnen auch erzählen, dass ich 2011 nicht mehr für die Gegenwart halte. Philip Nolan war der Mann ohne Vaterland; ich bin der Mann ohne Zeitbezug. Das werde ich wohl für immer bleiben. Selbst wenn 2011 noch existiert, werde ich dort ein Fremder auf Besuch sein.
Auf dem Schreibtisch neben mir liegt eine Ansichtskarte, auf der Autos vor einer Großleinwand vorfahren. Das sind die einzigen Karten, die in der Snackbar des Autokinos verkauft werden. Ich habe eine Mitteilung geschrieben, und ich habe die Adresse geschrieben: Mr. Deacon Simmons, Jodie High School, Jodie, Texas. Ich wollte schon Denholm Consolidated High School schreiben, aber aus der JHS wird erst nächstes Jahr die DCHS.
Die Mitteilung lautet: Lieber Deke, bitte passen Sie auf Ihre neue Bibliothekarin auf, wenn sie kommt. Sie braucht einen Beschützer, vor allem im April 1963. Bitte glauben Sie mir.
Nein, Jake, höre ich den Mann mit der ockerfarbenen Karte flüstern. Schon das ist zu viel. Falls John Clayton sie ermorden soll und es nicht tut, führt das zu Veränderungen … und wie du gesehen hast, ändert sich nie etwas zum Besseren. Auch wenn deine Absichten noch so gut sind.
Aber es geht um Sadie!, erkläre ich ihm, und obwohl ich nie eine Heulsuse war, kommen mir jetzt Tränen. Sie schmerzen, sie brennen. Es geht um Sadie, und ich liebe sie! Wie kann ich untätig zusehen, wenn er sie vielleicht umbringt?
Die Antwort ist so unerbittlich wie die Vergangenheit selbst: Schließ den Kreis.
Also zerreiße ich die Ansichtskarte, lege die Schnipsel in den Aschenbecher und zünde sie an. Hier gibt es keinen Rauchmelder, der aller Welt petzt, was ich getan habe. Zu hören ist nur mein rasselndes Schluchzen. Ich komme mir vor, als hätte ich sie mit eigenen Händen ermordet. Bald werde ich die Stahlkassette mit meinem Manuskript vergraben und dann nach Lisbon Falls zurückkehren, wo der Mann mit der ockerfarbenen Karte sich bestimmt sehr freuen wird, mich zu sehen. Ich werde kein Taxi rufen; ich will die ganze Strecke unter den Sternen zu Fuß gehen. Irgendwie will ich Abschied nehmen. Herzen brechen nicht wirklich. Wenn sie es doch nur täten!
Im Augenblick gehe ich nirgends hin außer hinüber zum Bett, auf dem ich mein tränennasses Gesicht aufs Kissen legen und den Gott, an den ich nicht recht glauben kann, bitten werde, meiner Sadie einen Schutzengel zu schicken, damit sie leben kann. Und lieben. Und tanzen.
Leb wohl, Sadie.
Du hast mich nie gekannt, aber ich liebe dich, Schatz.
Bürgerin des Jahrhunderts (2012)
1
Ich vermute, dass die Heimat des Famous Fatburgers verschwunden ist, ersetzt durch einen L. L. Bean Express, aber ich weiß es nicht mit Sicherheit; ich habe mir nie die Mühe gemacht, es im Internet zu recherchieren. Ich weiß nur, dass Al’s Diner noch da war, als ich von all meinen Abenteuern zurückkehrte. Und die Welt um ihn herum auch.
Zumindest bisher.
Über den Bean Express weiß ich nichts, weil der Tag meiner Rückkehr mein letzter Tag in Lisbon Falls war. Ich fuhr in mein Haus in Sabbatus, holte den versäumten Schlaf nach, packte dann zwei Koffer, nahm meine Katze mit und fuhr nach Süden. Bei einem Tankstopp in Westborough, einer Kleinstadt in Massachusetts, fand ich, dass sie für einen Mann ohne besondere Aussichten, einen, der vom Leben nichts mehr erwartete, gut genug war.
In der ersten Nacht blieb ich im Westborough Hampton Inn. Dort gab es einen kostenlosen WLAN-Zugang. Ich loggte mich ein – wobei mein Herz so raste, dass Leuchtpunkte durch mein Blickfeld flitzten – und rief die Website der Dallas Morning News auf. Nachdem ich meine Kreditkartennummer eingegeben hatte (ein Vorgang, den ich wegen meiner zitternden Finger mehrmals wiederholen musste), hatte ich Zugriff auf das Archiv. Die Meldung, dass ein Unbekannter auf Edwin Walker geschossen habe, war am 11. April 1963 da, aber am 12. April gab es nichts über Sadie. Auch in der nächsten und übernächsten Woche nicht. Ich fahndete weiter.
Die Geschichte, die ich suchte, fand ich in der Ausgabe vom 30. April.
2
GEISTESGESTÖRTER VERLETZT EXFRAU MIT MESSER UND VERÜBT SELBSTMORD
von Ernie Calvert
(JODIE) Der 77-jährige Deacon »Deke« Simmons und Ellen Dockerty, Direktorin des Denholm Consolidated School District, kamen am Sonntagabend zu spät, um zu verhindern, dass Sadie Dunhill verletzt wurde, aber für die beliebte 28-jährige Schulbibliothekarin hätte alles viel schlimmer ausgehen können.
Der für Jodie zuständige Wachtmeister Douglas Reems erklärte dazu: »Wären Deke und Ellen nicht rechtzeitig gekommen, wäre Miss Dunhill fast sicher ermordet worden.«
Die beiden Lehrkräfte waren mit einem Thunfischauflauf und einem Brotpudding gekommen. Keiner der beiden wollte über ihre heldenhafte Intervention sprechen. Simmons’ einzige Äußerung war: »Ich wollte, wir wären früher hingekommen.«
Wie Wachtmeister Reems berichtete, hat Simmons den weit jüngeren John Clayton aus Savannah, Georgia, überwältigt, nachdem Miss Dockerty die Auflaufform nach ihm geworfen und ihn so abgelenkt hatte. Simmons nahm ihm einen kleinen Revolver ab. Daraufhin zückte Clayton das Messer, mit dem er seine Frau im Gesicht verletzte und sich anschließend selbst die Kehle durchtrennte. Simmons und Miss Dockerty bemühten sich vergeblich, die Blutung zu stillen. Der herbeigerufene Notarzt konnte nur noch Claytons Tod feststellen.
Miss Dockerty teilte Wachtmeister Reems mit, Clayton habe seiner Exfrau anscheinend schon monatelang nachgestellt. Das Personal der Denholm Consolidated war gewarnt, Miss Dunhills Exmann könne gefährlich sein, und Miss Dunhill hatte ein Foto von Clayton zur Verfügung gestellt, aber Direktorin Dockerty sagte, er habe sein Aussehen stark verändert.
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