Gottverdammte Harmonien.
Ich schob so viele Kartons beiseite, dass ich in die Ecke gelangen konnte, und stapelte sie sorgfältig wieder hinter mir auf. Dann bewegte ich mich mit kleinen Schritten vorwärts und stellte mir dabei wieder einmal vor, wie man bei völliger Dunkelheit nach der obersten Stufe einer Treppe tastete. Aber es gab keine Stufe, nur diese eigenartige Verdopplung. Ich ging langsam weiter, sah meine untere Körperhälfte schimmern und schloss dann die Augen.
Noch ein Schritt. Und noch einer. Jetzt spürte ich Wärme an den Beinen. Nach zwei weiteren Schritten färbte Sonnenlicht die Schwärze hinter meinen Lidern rot. Ich machte einen weiteren Schritt und hörte den vertrauten leisen Knall in meinem Kopf. Als er verklungen war, hörte ich das schat-USCH-schat-USCH der gewaltigen Webstühle.
Ich öffnete die Augen. Der Gestank der schmutzigen ehemaligen Toilette war durch den Gestank einer Weberei ersetzt worden, die in einem Jahr, in dem es die Umweltschutzbehörde noch nicht gab, auf Hochtouren arbeitete. Unter den Füßen hatte ich rissigen Beton statt sich ablösendes, graues Linoleum. Zu meiner Linken standen die mit Planen aus Sackleinen abgedeckten riesigen Stahlbehälter mit Produktionsabfällen. Zur Rechten hatte ich den Trockenschuppen. Es war 11.58 Uhr am 9. September 1958. Harry Dunning war wieder ein kleiner Junge. Carolyn Poulin saß in der Lisbon High School in der fünften Stunde, hörte vielleicht der Lehrerin zu oder träumte vielleicht von einem Jungen oder davon, wie sie in ein paar Monaten mit ihrem Vater auf die Jagd gehen würde. Sadie Dunhill, die noch nicht mit Mr. Besenstiel verheiratet war, lebte in Georgia. Lee Harvey Oswald war mit seiner Einheit vom Marine Corps im Südchinesischen Meer. Und John F. Kennedy war der Juniorsenator aus Massachusetts, der davon träumte, Präsident zu werden.
Ich war zurück.
6
Ich ging zur Kette und duckte mich unter ihr hindurch. Auf der anderen Seite blieb ich einen Augenblick lang unbeweglich stehen, während ich mir vorstellte, wie ich mich verhalten würde. Dann ging ich weiter bis zum Ende des Trockenschuppens. Gleich hinter der Ecke lehnte der Grüne-Karte-Mann an der Außenwand. Nur war Zack Langs Karte nicht länger grün. Sie hatte eine schlammige Ockerfärbung irgendwo zwischen Grün und Gelb angenommen. Sein nicht zur Jahreszeit passender Mantel war staubig, sein ehemals flotter Filzhut wirkte zerbeult, irgendwie besiegt. Seine zuvor glatt rasierten Wangen waren jetzt stoppelbärtig … und manche dieser Bartstoppeln waren weiß. Seine Augen waren blutunterlaufen. Er hatte noch nicht zu trinken angefangen – zumindest roch ich keine Fahne –, aber ich vermutete, dass er es bald tun würde. Schließlich stand das Greenfront innerhalb seines kleinen Wirkungskreises, und alle diese Zeitstränge im Kopf zusammenzuhalten musste wehtun. Mehrfache Vergangenheiten waren schlimm genug, aber wenn man mehrfache Zukünfte hinzufügte? Da würde jeder zum Trinker werden, wenn es Alkohol gab.
Ich hatte eine Stunde im Jahr 2011 verbracht. Vielleicht etwas länger. Wie lange war das für ihn gewesen? Ich wusste es nicht. Ich wollte es nicht wissen.
»Gott sei Dank«, sagte er … genau wie zuvor. Aber als er wieder meine Hand mit beiden Händen umfassen wollte, wich ich zurück. Seine Fingernägel waren jetzt lang und hatten schwarze Trauerränder. Die Finger zitterten. Das waren die Hände – und der Mantel und der Filzhut und die im Hutband steckende Karte – eines zukünftigen Trinkers.
»Du weißt, was du tun musst«, sagte er.
»Ich weiß, was du willst, dass ich es tue.«
»Hier geht’s nicht ums Wollen. Du musst noch mal zurückgehen. Wenn alles gut geht, kommst du in dem Diner heraus. Er wird bald fortgeschafft, und wenn das geschieht, platzt die Blase, die all diesen Wahnsinn verursacht hat. Dass sie überhaupt so lange existiert hat, ist ein Wunder. Du musst den Kreis schließen. «
Er griff wieder nach mir. Diesmal tat ich mehr, als nur zurückzuweichen; ich warf mich herum und rannte in Richtung Parkplatz davon. Er spurtete hinter mir her. Wegen meines schlimmen Knies schmolz mein Vorsprung mehr zusammen, als es sonst der Fall gewesen wäre. Ich hörte ihn dicht hinter mir, als ich an dem Plymouth Fury vorbeilief, dem Double des Wagens, den ich eines Nachts auf dem Innenhof der Candlewood Bungalows gesehen, aber nicht weiter beachtet hatte. Dann erreichte ich die Kreuzung von Main Street und Old Lewiston Road. Auf der anderen Straßenseite stand der ewige Rockabilly-Rebell, der einen schwarzen Stiefel halb hochgehoben hinter sich gegen die Bretterverschalung der Kennebec Fruit stemmte.
Ich rannte über die Gleise und fürchtete, mein schlimmes Bein könnte auf dem Schotter nachgeben, aber Lang war derjenige, der stolperte und hinschlug. Ich hörte ihn aufschreien – ein verzweifeltes, einsames Krächzen – und hatte flüchtig Mitleid mit ihm. Eine schwere Pflicht, die dieser Mann hatte. Aber Mitleid konnte mich nicht aufhalten. Die Erfordernisse der Liebe waren grausam.
Der Lewiston Express kam herangebrummt. Der Fahrer hupte mich an, als ich dicht vor dem Bus über die Kreuzung hinkte. Ich musste an jenen anderen Bus voller Leute denken, die den Präsidenten sehen wollten. Und natürlich die First Lady, die in dem rosa Kostüm. Zwischen ihnen ein Strauß Rosen auf dem Sitz. Nicht gelb, sondern rot.
»Jimla, komm zurück!«
Das stimmte. Ich war letzten Endes doch Jimla, das Ungeheuer aus Rosette Templetons Albtraum. Ich hinkte eilig an der Kennebec Fruit vorbei, jetzt mit weitem Vorsprung vor dem Mann mit der ockerfarbenen Karte. Dieses Wettrennen würde ich gewinnen. Ich war Jake Epping, Highschool-Lehrer; ich war George Amberson, aufstrebender Schriftsteller; ich war der Jimla, der bei jedem Schritt, den er machte, die ganze Welt gefährdete.
Trotzdem eilte ich weiter.
Ich dachte an Sadie, groß und kühl und schön, und rannte weiter. Sadie, die zu Unfällen neigte und über einen schlimmen Mann namens John Clayton stolpern würde. An ihm würde sie sich nicht nur das Schienbein anschlagen. Die Welt um der Liebe willen ganz verloren – war das von Dryden oder von Pope?
An der Chevron-Tankstelle machte ich keuchend halt. Auf der anderen Straßenseite rauchte der Beatnik, dem der Jolly White Elephant gehörte, seine Pfeife und beobachtete mich. Der Mann mit der ockerfarbenen Karte stand an der Einmündung der Gasse hinter der Kennebec Fruit. Weiter konnte er in dieser Richtung anscheinend nicht.
Er streckte die Hände nach mir aus, was schlimm war. Dann fiel er auf die Knie und faltete die erhobenen Hände, was noch viel schlimmer war. »Bitte tu das nicht! Du musst doch wissen, wie hoch der Preis ist!«
Ich wusste es und hastete trotzdem weiter. An der Kreuzung gleich jenseits der St.-Joseph-Kirche stand eine Telefonzelle. Ich schloss die Tür hinter mir, schlug im Telefonbuch nach und warf eine Münze ein.
Als das Taxi kam, rauchte der Fahrer Luckies und hatte sein Radio auf WJAB eingestellt.
Die Geschichte wiederholte sich.
30. 9. 58
Ich verkroch mich im Tamarack-Autohof in Wohneinheit 7.
Ich zahlte mit Scheinen aus einer Geldbörse aus Straußenleder, die mir ein alter Kumpel geschenkt hatte. Geld blieb erhalten wie Fleisch aus dem Red & White oder bei Mason’s Menswear gekaufte Hemden. Wenn jeder Trip ein völliger Neustart wäre, dürfte das nicht sein, aber dem ist nicht so, also existiert das alles weiter. Das Geld stammt nicht von Al, aber wenigstens hatte Agent Hosty mich laufen lassen, was sich vielleicht als Wohltat für die Welt erweisen würde.
Oder nicht. Ich weiß es nicht.
Morgen ist der 1. Oktober. In Derry freuen die Kinder der Familie Dunning sich schon auf Halloween und überlegen, wie sie sich verkleiden werden. Ellen, dieser hübsche kleine Rotschopf, will als Prinzessin Summerfall Winterspring gehen. Dazu wird es nie kommen. Würde ich heute nach Derry fahren, könnte ich Frank Dunning erschießen und ihr Halloween retten, aber ich werde es nicht tun. Und ich werde nicht nach Durham fahren, um Carolyn Poulin vor Andy Cullums Fehlschuss zu bewahren. Die Frage ist nur: Werde ich nach Jodie übersiedeln? Kennedy kann ich nicht retten, das kommt nicht infrage, aber kann die zukünftige Weltgeschichte so zerbrechlich sein, dass sie nicht zulässt, dass zwei Highschool-Lehrer sich begegnen und sich ineinander verlieben? Dass sie heiraten, zu Beatles-Songs wie »I Want to Hold Your Hand« tanzen und ihr unauffälliges Leben leben?
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