Er mußte weitergehen, konnte es aber nicht. Die Mauer hinderte ihn daran. Eine schmerzhafte, zornige Angst stieg in ihm auf. Er mußte weitergehen, sonst konnte er nie wieder heimkehren. Aber da stand die Mauer. Es war unmöglich.
Mit den Fäusten hämmerte er an die glatte Fläche und schrie. Wortlos und krächzend. Erschrocken über den Klang seiner Stimme, duckte er sich, und dann sagte eine andere Stimme: »Sieh her!« Es war die Stimme seines Vaters. Er ahnte, daß seine Mutter Rulag auch da war, aber sehen konnte er sie nicht (er erinnerte sich nicht an ihr Gesicht). Er hatte den Eindruck, daß sie und Palat auf allen vieren in der Dunkelheit an der Mauer kauerten und daß sie umfangreicher waren als menschliche Wesen und von anderer Gestalt. Sie deuteten, zeigten ihm etwas auf dem Boden, dem sauren Boden, auf dem nichts gedieh. Ein Stein lag da. Er war so dunkel wie die Wand, aber auf ihm, oder in ihm, sah er eine Zahl; eine Fünf, dachte er zuerst, dann hielt er sie eher für eine Eins, doch schließlich begriff er, was es war: die Urzahl, die zugleich Einheit und Mehrheit darstellte. »Das ist der Grundstein«, sagte eine liebvertraute Stimme, und Shevek war ganz von Freude erfüllt. Es gab keine Wand mehr, dort im Schatten, und er wußte, daß er zurückgekehrt, daß er wieder daheim war.
Später konnte er sich an die Einzelheiten dieses Traums nicht mehr erinnern, doch diese ungeheure Woge der Freude vergaß er nie. So etwas hatte er noch nicht erlebt; und so unfehlbar beständig schien sie zu sein, wie ein flüchtiger Blick auf ein Licht, das beständig brennt, daß er sie keine Sekunde als unwirklich empfand, obwohl er sie doch nur im Traum gespürt hatte. So beständig sie jedoch dort zu sein schien — er konnte sie weder durch tiefes Sehnen noch durch reine Willenskraft wieder herbeizwingen. Er konnte sich nur im Wachen an sie erinnern. Denn wenn er wieder einmal von der Mauer träumte, wie es gelegentlich geschah, waren die Träume deprimierend und ohne den erlösenden Schluß.
Den Begriff ›Gefängnis‹ hatten sie beim Studieren von Episoden aus dem Werk Das Leben Odos kennengelernt, ein Buch, das alle lesen mußten, die sich mit Geschichte befaßten. Es enthielt zahlreiche Unklarheiten, und in Wide Plains gab es niemanden, der sich so gut in Geschichte auskannte, daß er ihnen alles erklären konnte; als sie jedoch bei Odos Zeit im Fort von Drio waren, erklärte sich der Begriff ›Gefängnis‹ von selbst. Und als ein Geschichtslehrer auf seiner Rundreise in den Ort kam, erläuterte er ihnen dieses Thema so zögernd und widerwillig wie ein hochehrbarer Erwachsener, den Kinder nach der Bedeutung eines obszönen Wortes fragen. Ja, sagte er, ein Gefängnis sei ein Gebäude, in das ein Staat Menschen einweise, die seine Gesetze übertreten hätten. Aber warum gingen sie nicht einfach weg? Sie konnten nicht weggehen, da die Türen verschlossen waren. Verschlossen? — Wie die Türen eines fahrenden Lastwagens, damit ihr nicht hinausfallt, du Dummkopf! Aber was taten sie bloß die ganze Zeit in einem einzigen Raum? Nichts. Es gab nichts zu tun. Ihr habt doch Bilder von Odo in der Gefängniszelle von Drio gesehen, nicht wahr? Verkörperung trotziger Geduld, gebeugter Kopf mit grauem Haar, verkrampfte Hände, reglos in den wachsenden Schatten. Manchmal wurden Gefangene auch zu Arbeit verurteilt. Verurteilt? — Nun ja, ein Richter — ein Mann, dem das Gesetz Macht verleiht — befahl ihnen, körperliche Arbeit zu verrichten. — Er befahl es ihnen? Und wenn sie nicht wollten? — Nun, dann wurden sie gezwungen; wenn sie nicht arbeiten wollten, wurden sie geschlagen. — Prickelnde Erregung bei den Kindern, elf- und zwölfjährigen, von denen keins jemals geschlagen worden war oder gesehen hatte, daß jemand geschlagen wurde, es sei denn, in plötzlich aufflammendem Zorn.
Tirin stellte die Frage, die ihnen allen auf der Zunge lag: »Heißt das, daß viele Leute einen einzigen Menschen schlugen?«
»Warum haben die anderen sie nicht daran gehindert?«
»Weil die Wärter Waffen hatten, die Gefangenen aber nicht«, antwortete der Lehrer. Er sprach mit der Heftigkeit eines Menschen, der sich gezwungen sieht, etwas Abscheuliches zuzugeben, und dem das unerträglich peinlich ist.
Es war die Faszination des Unbekannten, Abwegigen, die Tirin, Shevek und drei weitere Jungen zusammenführte. Mädchen wurden nicht geduldet; warum, hätten sie nicht sagen können. Tirin hatte ein ideales Gefängnis entdeckt: unter dem Westflügel des Lernzentrums. Es war ein Raum, der von drei Betongrundmauern sowie der Unterseite des Bodens darüber gebildet wurde, gerade groß genug, daß eine Person sich darin sitzend oder liegend aufhalten konnte; da die Grundmauern zu einem Fertigbauteil aus Beton gehörten, ging der Boden dieses Raums nahtlos in die Wände über, und eine schwere Platte der Schaumsteinverkleidung würde einen perfekten Verschluß abgeben. Doch diese ›Tür‹ mußte verriegelt werden.
Nach einigen Versuchen stellten sie fest, daß zwei Stützbalken, zwischen die ›Tür‹ und eine gegenüberliegende Wand geklemmt, die Platte unverrückbar an ihrem Platz halten würden. Wer drinnen saß, konnte die ›Tür‹ auf gar keinen Fall aufstemmen.
»Was ist mit Licht?«
»Kein Licht«, entschied Tirin. Er sprach über derartige Dinge stets mit Bestimmtheit, weil er sich dank seiner Vorstellungskraft direkt in eine Situation hineinversetzen konnte. Soweit ihm Tatsachen zur Verfügung standen, verwendete er sie, doch nicht die Tatsachen verliehen ihm die Gewißheit. »In diesem Fort in Drio mußten die Gefangenen auch im Dunkeln sitzen. Jahrelang.«
»Aber Luft«, wandte Shevek ein. »Die Tür paßt wie ein Vakuumverschluß. Sie muß ein Loch haben.«
»Aber es dauert Stunden, Steinschaum zu durchbohren. Außerdem, wer will denn schon so lange in dem Loch da bleiben, daß ihm wirklich die Luft ausgeht?« Ein Chor von Freiwilligen antwortete ihm. Tirin sah sie verächtlich an. »Ihr seid ja alle komplett verrückt. Ihr wollt euch da drin einschließen lassen? — Wozu?« Die Gefängniszelle zu bauen war seine Idee gewesen, und das genügte ihm vollauf; er wußte nicht, daß manche Menschen nicht genügend Vorstellungskraft besitzen, daß sie selber in die Zelle gehen müssen, versuchen müssen, die fest verschlossene Tür zu öffnen.
»Ich will wissen, wie das ist«, erklärte Kadagv, ein ernster, anmaßender Zwölfjähriger mit kräftigem Brustkasten.
»Streng deinen Kopf an!« höhnte Tirin, aber die anderen waren auf Kadagvs Seite. Shevek holte einen Bohrer aus der Werkstatt, und dann bohrten sie in Nasenhöhe ein zwei Zentimeter großes Loch in die ›Tür‹. Wie Tirin vorausgesagt hatte, brauchten sie dazu fast eine Stunde.
»Wie lange willst du darin bleiben, Kad? Eine Stunde?«
»Hört mal«, protestierte Kadagv, »wenn ich der Gefangene sein soll, darf ich auch nichts bestimmen. Weil ich nicht frei bin. Ihr müßt bestimmen, wann ihr mich wieder rauslassen wollt.«
»Das stimmt«, bestätigte Shevek, geschlagen von so viel Logik.
»Allzu lange darfst du aber nicht drinbleiben, Kad. Ich will auch mal!« verlangte Gibesh, der Jüngste von ihnen. Der Gefangene ließ sich zu keiner Antwort herbei. Er betrat seine Zelle. Die Tür wurde angehoben und mit einem Knall geschlossen, dann wurden die Stützbalken dagegengestemmt und von den vier Gefängniswärtern mit Begeisterung festgekeilt. Anschließend drängten alle ans Loch, um einen Blick auf den Gefangenen zu werfen; da jedoch nur durch das Luftloch Licht in die Zelle fallen konnte, war es drinnen stockdunkel und sie sahen nichts.
»Nehmt dem armen Schwein nicht alle Luft weg!«
»Pustet ihm welche rein!«
»Furzt ihm welche rein!«
»Wie lange er's da drin wohl aushält?«
»Eine Stunde.«
»Drei Minuten.«
»Fünf Jahre!«
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