Der Mond stand hoch über dem Northsetting Regional-Institut für Ideelle und Materielle Wissenschaften. Vier fünfzehn- bis sechzehnjährige Jungen saßen zwischen stacheligem Kriech-Holum auf einem Hügel und blickten zum Regional-Institut hinunter und zum Mond hinauf.
»Komisch«, sagte Tirin, »ich habe eigentlich noch nie daran gedacht, daß da oben, auf Urras, vielleicht auch Leute auf einem Hügel sitzen und zu uns, zu Anarres, hinaufblicken und sagen: ›Seht, da oben ist der Mond.‹ Unsere Erde ist ihr Mond; unser Mond ist ihre Erde.«
»Wo also liegt die Wahrheit?« deklamierte Bedap und gähnte.
»In dem Hügel, auf dem man zufällig sitzt«, erwiderte Tirin.
Sie hörten nicht auf, zu dem hellen, etwas verschwommenen Türkis hinaufzuschauen, der, da es einen Tag nach Vollmond war, nicht ganz rund wirkte. Das Eis des Nordpols glänzte strahlend. »Das Wetter im Norden ist schön«, sagte Shevek. »Sonnig. Das da, die bräunliche Delle, ist A-Io.«
»Da liegen sie alle nackt in der Sonne«, sinnierte Kvetur. »Mit Edelsteinen im Nabel, und ohne Haare.« Schweigen.
Sie waren auf den Hügel gekommen, weil sie als Männer unter sich sein wollten. Die Gegenwart weiblicher Wesen war ihnen allen unangenehm. Seit kurzem hatten sie den Eindruck, die Welt wimmle nur so von Mädchen. Wohin sie blickten, im Wachen oder im Schlaf, sahen sie Mädchen. Alle hatten sie schon versucht, mit Mädchen zu kopulieren; in ihrer Verzweiflung hatten einige von ihnen auch schon versucht, nicht mit Mädchen zu kopulieren. Es war sinnlos. Die Mädchen waren nicht wegzukriegen.
Drei Tage zuvor hatten sie alle in einer Vorlesung über die Geschichte der Odo-Bewegung an einer visuellen Lektion teilgenommen, und seitdem sahen sie allesamt insgeheim die schimmernden Edelsteine in der glatten Vertiefung der eingeölten, sonnengebräunten Bäuche der Frauen vor sich.
Daneben aber hatten sie auch die nackten Leichen von Kindern gesehen, ebenso behaart wie sie selbst, aufgestapelt wie Eisenträger, steif und rostig, an einem Meeresstrand; und Männer, die öl über die Kinderleichen gössen und sie in Brand steckten. »Eine Hungersnot in der Provinz Bachifoil in der Nation Thu«, hatte die Stimme des Kommentators dazu gesagt. »Leichen von verhungerten und an Krankheiten gestorbenen Kindern werden an den Stranden verbrannt. An den Stranden von Tius, siebenhundert Kilometer entfernt, in der Nation A-Io (hier kamen die juwelengeschmückten Nabel) dagegen liegen für den sexuellen Bedarf männlicher Angehöriger der besitzenden Klasse (hier wurde die iotische Bezeichnung verwendet, da es auf Pravic kein Äquivalent dafür gab) zur Verfügung gehaltene Frauen den ganzen Tag im Sand, bis ihnen von Menschen der besitzlosen Klasse das Abendessen serviert wird.« Nahaufnahme des Abendessens: weichlippige Münder, die kauen und lächeln, glatte Hände, die nach Silberschalen voll feucht-appetitlicher Delikatessen greifen. Dann Überblendung zu dem blinden, stumpfen, abgezehrten Gesicht eines toten Kindes, mit offenem Mund, leer, schwarz, trocken. »Nah beieinander«, hatte die ruhige Stimme dazu gesagt.
Aber das Bild, das sich wie eine ölig-irisierende Seifenblase in den Köpfen der Jungen festgesetzt hatte, blieb unverändert.
»Wie alt sind diese Filme eigentlich?« fragte Tirin. »Sind sie aus der Zeit vor der Besiedlung, oder neu? Das wird nie dazugesagt.«
»Spielt das denn eine Rolle?« entgegnete Kvetur. »Auf Urras haben sie vor der Odonischen Revolution so gelebt. Die Odonier sind ausgewandert und hierher, nach Anarres gekommen. Also hat sich wahrscheinlich nichts geändert — sie treiben's immer noch genauso, dort.« Er deutete auf den großen, blaugrünen Mond.
»Woher weißt du das?«
»Was meinst du, Tir?« erkundigte sich Shevek.
»Wenn diese Filme einhundertfünfzig Jahre alt sind, haben sich die Dinge auf Urras vielleicht inzwischen verändert. Ich will nicht behaupten, daß es so ist, aber wenn es so ist, wie sollen wir davon erfahren? Wir kommen nicht hin, wir reden nicht mit ihnen, es gibt keine Verständigung. In Wirklichkeit haben wir keine Ahnung, wie das Leben auf Urras jetzt aussieht.«
»Die Leute von der PDK wissen Bescheid. Die reden mit der Urrasti-Besatzung der Frachter, die im Hafen von Anarres landen. Die bleiben auf dem laufenden. Das müssen sie auch, sonst könnten wir unseren Handel mit Urras nicht aufrechterhalten und wüßten nicht, inwieweit die eine Gefahr für uns sind.« Bedaps Worte klangen vernünftig, doch Tirins Antwort war dennoch scharf: »Dann ist vielleicht die PDK informiert, aber wir nicht.«
»Informiert!« sagte Kvetur. »Ich höre seit dem Kindergarten ständig Berichte über Urras! Ich hab keine Lust, je wieder einen Film über die widerlichen Urrasti-Städte und die öligen Körper dieser Urrasti zu sehen!«
»Das ist es ja gerade!« triumphierte Tirin mit der Überlegenheit desjenigen, der nur der Logik folgt. »Das Material über Urras, das Schülern und Studenten zur Verfügung steht, ist immer und überall das gleiche. Abstoßend, unmoralisch, ekelhaft. Aber wenn es so schlimm war, als die Siedler auswanderten, wieso ist es dann einhundertundfünfzig Jahre lang so weitergegangen? Wenn sie so krank waren, warum sind sie dann nicht tot? Warum ist ihre besitzbetonte Gesellschaftsform nicht zusammengebrochen? Wovor haben wir eigentlich Angst?« — »Vor Ansteckung«, antwortete Bedap.
»Sind wir denn so schwach, daß wir uns dieser geringen Gefahr nicht aussetzen können? Außerdem alle können sie doch nicht krank sein. Wie ihre Gesellschaftsform auch aussehen mag, einige von ihnen müssen anständige Menschen sein. Hier gibt es doch auch alle möglichen Menschen, nicht wahr? Sind wir alle untadelige Odonier? Seht euch doch zum Beispiel mal diesen verrückten Pesus an!«
»In einem kranken Organismus ist aber auch eine gesunde Zelle dem Untergang geweiht«, erklärte Bedap.
»Ach was! Mit Analogien kann man alles beweisen, das weißt du genau. Übrigens, woher wissen wir, daß ihre Gesellschaft insgesamt wirklich krank ist?«
Bedap kaute auf seinem Daumennagel. »Du willst also sagen, daß wir vom PDK und vom Syndikat für Unterrichtsmaterial im Hinblick auf Urras belegen werden.«
»Nein! Ich habe gesagt, wir wissen nur das, was man uns mitteilt. Und du weißt, was man uns mitteilt, nicht wahr?« Tirins dunkles Gesicht mit der Stupsnase, im hellen, bläulichen Mondlicht deutlich zu sehen, wandte sich ihnen zu. »Kvet hat es vor einer Minute gesagt. Er hat's erfaßt. Und ihr habt es gehört: verabscheut Urras, haßt Urras, fürchtet Urras!«
»Warum auch nicht?« fuhr Kvetur auf. »Nach dem, wie sie uns Odonier behandelt haben!«
»Sie haben uns schließlich ihren Mond gegeben, nicht wahr?«
»Ja, allerdings. Damit wir ihre Profitler-Staaten nicht zerstören und an ihrer Stelle gerechte Gesellschaftsformen einführen! Und ich wette, sobald sie uns losgeworden waren, haben sie schneller denn je aufgerüstet, weil niemand mehr da war, der sie daran hinderte. Wenn wir ihnen unseren Hafen öffnen würden — glaubt ihr, sie kämen als Freunde und Brüder? Tausend Millionen von Urras gegen zwanzig Millionen von uns? Die würden uns ausradieren oder uns zu — wie heißt das noch, wie war dieser Ausdruck? — zu Sklaven machen, damit wir in ihren Bergwerken arbeiten!«
»Schon gut! Ich sehe ja ein, daß es wahrscheinlich klüger ist, Urras zu fürchten. Aber warum müssen wir es denn hassen? Haß ist sinnlos; weshalb lehrt man uns hassen? Vielleicht deswegen, weil wir Urras möglicherweise schön fänden, wenn wir es kennenlernten — wenigstens einige von uns? Weil die PDK nicht nur verhindern will, daß ein paar von denen hierherkommen, sondern auch, daß einige von uns dorthin gehen wollen?«
»Nach Urras?« fragte Shevek entsetzt.
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