Shevek hatte die ersten Dekaden beim Aufforstungsprojekt in stummem Trotz und körperlicher Erschöpfung verbracht. Man hätte Leute, die auf so zentralen Funktionsgebieten wie der Physik arbeiteten, nicht zu dieser Art von Projekten und Sondereinsätzen heranziehen dürfen. War es nicht unmoralisch, eine Arbeit zu verrichten, die man nicht gern tat? Gewiß, die Arbeit mußte getan werden, aber es gab zahlreiche Menschen, denen es gleich war, wo sie eingesetzt wurden, und die ständig ihren Job wechselten; die hätten sich freiwillig dazu melden sollen. Eine derartige Arbeit konnte auch der Dümmste verrichten. Ja, viele konnten es sogar weit besser als er. Er war immer stolz auf seine Kraft gewesen und hatte sich beim turnusmäßigen Dienst an jedem zehnten Tag immer für die schweren Arbeiten gemeldet; aber hier ging es Tag für Tag, acht Stunden am Tag, in Staub und Hitze. Den ganzen Tag über sehnte er sich nach dem Abend, wenn er allein sein und nachdenken konnte, aber kaum hatte er sich nach dem Abendessen ins Schlafzelt begeben, sank sofort sein Kopf auf das Kissen, und er schlief wie ein Stein bis zum Morgengrauen, ohne daß ein einziger Gedanke in seinem Hirn entstanden wäre.
Seine Arbeitskameraden fand er langweilig und primitiv, und sogar diejenigen, die jünger waren als er, behandelten ihn wie einen kleinen Jungen. Voll Zorn und Abscheu konzentrierte er sich auf seine einzige Freude: Er schrieb seinen Freunden Tirin und Rovab in einem Kode, den sie am Institut ausgearbeitet hatten, einer Anzahl verbaler Entsprechungen für die einzelnen Symbole der temporalen Physik. Im ganzen gelesen, schienen sie eine sinnvolle Nachricht zu ergeben, in Wirklichkeit aber waren sie unsinnig, das heißt, bis auf die Gleichung oder die philosophische Formel, die sie kaschierten. Sheveks und Rovabs Gleichungen waren echt. Tirins Briefe waren sehr komisch und hätten jeden Leser überzeugt, daß sie sich ausschließlich auf reale Gefühle und Ereignisse bezogen, ihr physikalischer Inhalt jedoch war zweifelhaft. Als Shevek festgestellt hatte, daß er diese Rätsel im Kopf ausarbeiten konnte, während er im Sandsturm mit einer Schaufel Löcher in die Steine grub, schickte er häufiger eins ab. Tirin antwortete ihm mehrmals, Rovab nur ein einziges Mal. Sie war ein überaus kühles Mädchen, er wußte, daß 'sie kühl war. Doch keiner der beiden dort am Institut ahnte, wie schlecht es ihm tatsächlich ging. Sie waren ja nicht, wie er, abkommandiert worden, als sie gerade mit den selbständigen Forschungen begannen, abkommandiert zu diesem verfluchten, blödsinnigen Aufforstungsprojekt! Ihre zentrale Funktion wurde ja nicht vergeudet. Sie durften arbeiten: tun, was sie gern taten. Er arbeitete nicht. Er wurde bearbeitet.
Dennoch war es sonderbar, wieviel Stolz man empfand, wenn man all das zusammen geschafft hatte, welche Befriedigung dies einem gewährte. Und einige von den Arbeitskameraden waren ja wirklich außergewöhnliche Menschen. Gimar, zum Beispiel. Anfangs hatte ihre muskulöse Schönheit ihn eher eingeschüchtert, jetzt aber war er stark genug, sie zu begehren.
»Komm heute abend mit mir, Gimar.«
»O nein!« antwortete sie und starrte ihn so verblüfft an, daß er mit der Würde des Schmerzes sagte: »Aber ich dachte, wir wären Freunde!«
»Sind wir auch.«
»Ja, aber dann…«
»Ich habe einen Partner. Er ist zu Hause.«
»Das hättest du mir sagen müssen«, erwiderte Shevek, rot werdend.
»Ich ahnte nicht, daß das erforderlich war. Tut mir leid, Shev.« Sie sah ihn so voller Mitleid an, daß er, Hoffnung schöpfend, noch einmal begann: »Meinst du nicht, daß wir…«
»Nein. Das kann man in einer Partnerschaft nicht machen, ein bißchen für ihn, und ein bißchen für andere.«
»Lebenslange Partnerschaft verstößt eigentlich gegen die odonische Ethik, nicht wahr?« sagte Shevek pedantisch.
»Quatsch!« antwortete Gimar mit ihrer sanften Stimme. »Besitzen ist falsch; teilen ist richtig. Und was könnte man mehr mit einem anderen teilen als sich selbst, sein ganzes Leben, jeden Tag und jede Nacht?«
Er saß mit gesenktem Kopf, die Hände zwischen den Knien, ein hochaufgeschossener Junge, knochig, tief unglücklich, unfertig. »Das ist noch nichts für mich«, sagte er nach einer Weile.
»Wieso?«
»Weil ich eigentlich noch überhaupt niemanden kenne. Du hast ja gesehen, daß ich dich nicht verstanden habe. Ich bin ausgesperrt. Ich kann nicht hinein. Werde es nie können. Es wäre nicht klug von mir, an eine Partnerschaft zu denken. So etwas ist für… für menschliche Wesen…«
Ein wenig scheu, nicht kokett, sondern mit einer aus Achtung geborenen Scheu, legte ihm Gimar die Hand auf die Schulter. Sie versuchte nicht, ihn zu trösten. Sie sagte nicht, er sei wie jeder andere. Sondern sie sagte: »Ich werde nie wieder jemanden kennenlernen wie dich, Shevek. Ich werde dich niemals vergessen.«
Dennoch — Zurückweisung ist und bleibt Zurückweisung. Trotz all ihrer Behutsamkeit verließ er sie mit schmerzender Seele und voll Zorn.
Es war sehr heiß; nur in der Stunde vor Sonnenaufgang wurde es ein bißchen kühler.
Eines Abends nach dem Essen kam der Mann namens Shevet zu Shevek. Es war ein untersetzter, hübscher Bursche von dreißig Jahren. »Ich habe es satt, dauernd mit dir verwechselt zu werden!« erklärte er. »Such dir einen anderen Namen.«
Früher hätte er Shevek mit seiner bulligen Aggressivität verunsichert. Jetzt antwortete dieser ihm auf gleiche Art. »Wenn dir das nicht paßt, such dir doch selbst einen neuen Namen!«
»Du bist auch einer von diesen kleinen Profitlern, die zur Schule gehen, damit sie sich nicht die Hände schmutzig machen müssen«, sagte der Mann. »Einen wie dich hab ich schon immer mal verprügeln wollen.«
»Untersteh dich, mich Profitler zu nennen!« gab Shevek zurück, aber dies war keine der ihm vertrauten Wortschlachten. Shevet traf ihn, daß er sich krümmte. Er konnte auch mehrere Schläge landen, hauptsächlich, weil seine Arme so lang waren und weil er mehr Temperament besaß, als sein Gegner erwartet hatte: aber er war ihm weit unterlegen. Ein paarmal blieben Leute stehen, sahen, daß es ein fairer, doch uninteressanter Kampf war, und gingen weiter. Primitive Gewalttätigkeit stieß sie weder besonders ab, noch zog sie sie an. Da Shevek nicht um Hilfe rief, ging es keinen anderen etwas an. Als er wieder zu sich kam, lag er zwischen zwei Zelten auf dem dunklen Boden.
Ein paar Tage lang hatte er noch ein Rauschen in den Ohren sowie eine aufgeschlagene Lippe, die wegen des Staubs sehr schlecht heilte, denn der Staub entzündete alle Wunden. Mit Shevet wechselte er nie wieder, ein Wort. Aus der Ferne sah er seinen Gegner mehrere Male an anderen Kochfeuern, empfand aber keine besondere Abneigung gegen ihn. Shevet hatte ihm gegeben, was er zu geben hatte, und er hatte die Gabe entgegengenommen, obwohl es lange dauerte, bis er ihren Wert und ihre Natur erkannte. Als er endlich soweit war, gab es keinen Unterschied mehr zwischen ihr und einer anderen Gabe, einer anderen Zäsur in seinem Leben. Ein junges Mädchen, das erst kürzlich zu ihnen gestoßen war, kam genau wie Shevet im Dunkeln zu ihm, als er das Kochfeuer verließ, und seine Lippe war noch nicht verheilt… An das, was sie sagte, konnte er sich später nicht mehr erinnern; sie hatte ihn geneckt; und wieder hatte er eindeutig reagiert. Im Dunkeln wanderten sie in die Ebene hinaus, und dort schenkte sie ihm die Freiheit des Fleisches. Das war ihre Gabe, und er nahm sie an. Wie alle Kinder von Anarres sammelte er uneingeschränkt sexuelle Erfahrungen mit Jungen und Mädchen, aber damals waren sie alle Kinder gewesen; er war nie weitergegangen als bis zu dem Vergnügen, das, wie er vermutete alles war. Beshun erst, eine Expertin sexueller Freuden, führte ihn in das Herz der Sexualität, dorthin, wo es weder Groll noch Dummheit gibt, wo die beiden Körper, die sich vereinigen wollen, den Augenblick auslöschen und über sich selbst, über die Zeit hinauswachsen.
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