»Noch vier Stunden bis zum Lichtaus. Das müßte reichen.«
»Aber ich will auch mal!«
»Na schön, du kannst dann die Nacht über drinbleiben.«
»Nein, nein, ich meine doch, morgen.«
Vier Stunden später schlugen sie die Stützbalken weg und befreiten Kadagv. Er kam ebenso überheblich wieder heraus, wie er hineingegangen war, erklärte bloß, er habe Hunger und es sei ein Kinderspiel; er habe die meiste Zeit geschlafen.
»Würdest du's noch mal tun?« fragte Tirin herausfordernd.
»Na klar!«
»Nein, jetzt will ich…«
»Halt den Mund, Gib! Also, was ist, Kad? Würdest du jetzt sofort wieder da hineinmarschieren, ohne zu wissen, wann wir dich wieder rauslassen?«
»Na klar!«
»Ohne Essen?«
»Die haben ihren Gefangenen aber zu essen gegeben«, wandte Shevek ein. »Das ist ja das Makabre daran.«
Kadagv zuckte die Achseln. Seine überhebliche Gleichgültigkeit war geradezu unerträglich.
»Hört mal«, wandte sich Shevek an die beiden Jüngsten, »ihr geht jetzt gleich in die Küche und laßt euch Reste geben. Und bringt auch 'ne Flasche Wasser mit.« Er drehte sich wieder zu Kadagv um. »Wir werden dir einen ganzen Sack voll mitgeben, dann kannst du da drinbleiben, solange du willst.«
»Solange ihr wollt«, berichtigte Kadagv.
»Von mir aus. Also, rein!« Kadagvs Selbstsicherheit brachte in Tirin die Neigung zur Satire ans Licht. »Du bist ein Gefangener. Du hast uns nicht zu widersprechen. Verstanden? Umdrehen! Hände oben auf den Kopf!«
»Wozu?«
»Willst du lieber aufhören?«
Kadagv musterte ihn verdrossen.
»Du hast kein Recht zu fragen, warum. Und wenn du's trotzdem tust, dürfen wir dich schlagen, und du mußt es dir gefallen lassen, und kein Mensch wird dir helfen. Wir können dich sogar in die Eier treten, und du darfst dich nicht wehren. Weil du nicht frei bist. Also, willst du jetzt immer noch weitermachen?«
»Klar. Los, schlag mich!«
Tirin, Shevek und der Gefangene standen einander in einer seltsamen, steifen Gruppe um die Laterne gegenüber — im Dunkeln, mitten zwischen den schweren Grundmauern des Gebäudes.
Tirin lächelte arrogant, genußvoll. »Du hast mir gar nichts zu befehlen, du Profitler! Sei still und geh endlich in deine Zelle!« Und als Kadagv sich umdrehte, um seinen Befehl auszuführen, versetzte Tirin ihm einen Stoß in den Rücken, daß er der Länge nach in das Loch hineinflog. Vor Überraschung oder Schmerz stieß er ein kurzes Grunzen aus, dann richtete er sich auf und hielt sich einen Finger, den er sich an der Rückwand der Zelle aufgeschürft oder verstaucht hatte. Shevek und Tirin sagten kein Wort. In ihrer Rolle als Wärter standen sie regungslos und mit ausdruckslosen Gesichtern da. Sie spielten diese Rolle jetzt nicht mehr, sie wurden von der Rolle beherrscht. Die Jüngeren kehrten mit etwas Holumbrot, einer Melone und einer Flasche Wasser zurück; sie redeten laut, als sie näherkamen, das seltsame Schweigen bei der Zelle aber ließ sie sofort verstummen. Essen und Wasser wurden hineingeschoben, die Tür angehoben und festgekeilt. Kadagv war allein im Dunkeln. Die anderen sammelten sich um die Laterne. Gibesh flüsterte: »Und wenn er mal muß?«
»Dann pißt er ins Bett«, erwiderte Tirin mit ironischer Deutlichkeit.
»Und wenn er scheißen muß?« fragte Gibesh und brach in schallendes Gelächter aus.
»Was ist so komisch, wenn man scheißt?«
»Ich dachte nur… Na ja, wenn er doch nichts sehen kann… So im Dunkeln…« Gibesh konnte die Komik seiner Vorstellung nicht voll zur Geltung bringen. Ohne weitere Erklärung begannen alle zu lachen, bis sie keuchten und keine Luft mehr bekamen. Alle wußten, daß der Junge in der Zelle ihr Lachen hörte.
Im Kinderschlafsaal war es lange nach Lichtaus, und viele Erwachsene waren auch schon im Bett, obwohl in den Wohnheimen dort und da noch Licht brannte. Die Straße war leer. Die Jungen stürmten lachend und rufend dahin, ausgelassen vor Freude über ihr Geheimnis, über die Tatsache, daß sie andere störten, über die gemeinsame böse Tat. Sie spielten Fangen in den Gängen und zwischen den Betten und weckten damit die anderen Kinder. Kein Erwachsener griff ein; der Tumult legte sich bald von selbst.
Tirin und Shevek saßen noch lange auf Tirins Bett und flüsterten miteinander. Sie kamen zu dem Ergebnis, daß Kadagv an allem selbst schuld sei und dafür zwei ganze Nächte in seinem Gefängnis verbringen müsse.
Am anderen Nachmittag traf sich die Gruppe abermals in der Werkstatt für Holzwiederverarbeitung, und der Vorarbeiter fragte nach Kadagv. Shevek tauschte einen Blick mit Tirin. Er kam sich überaus gescheit vor und genoß ein gewisses Machtgefühl, als er nicht antwortete. Als jedoch Tirin eiskalt erwiderte, er habe sich wohl einer anderen Gruppe angeschlossen, war Shevek über die Lüge entsetzt. Sein Gefühl geheimer Macht war ihm auf einmal unbehaglich: seine Beine juckten, seine Ohren brannten. Als ihn der Vorarbeiter ansprach, zuckte er erschrocken zusammen — aus Angst oder einem ähnlichen Gefühl, einem Gefühl, das er bis dahin nicht gekannt hatte, einem Gefühl, das etwa so war wie Verlegenheit, nur noch viel schlimmer: innerlich, und böse… Während er in dreischichtigen Holumbrettern Nagellöcher füllte und die Bretter dann mit Sandpapier glättete, bis sie sich wie Seide anfühlten, mußte er ununterbrochen an Kadagv denken. Jedesmal, wenn er den Blick nach innen wandte, sah er Kadagv. Es war ekelhaft!
Gibesh, der inzwischen Wache gestanden hatte, kam nach dem Abendessen zu Tirin und Shevek. Er wirkte beunruhigt. »Ich glaube, Kad hat da drin irgend was gesagt. Mit einer ganz komischen Stimme.«
Pause. »Wir lassen ihn raus«, bestimmte Shevek.
Tirin protestierte. »Hör mal, Shev, jetzt laß uns bitte nicht im Stich! Sei nicht so scheiß-menschenfreundlich! Laß ihn seine Zeit drinnen ruhig absitzen, damit er hinterher seine Selbstachtung behält.«
»Menschenfreundlich? Ich will bloß auch meine Selbstachtung behalten«, erwiderte Shevek und machte sich auf den Weg zum Lernzentrum. Tirin kannte ihn; darum verschwendete er keine Zeit mit Diskussionen, sondern ging hinterher. Die Elfjährigen schlossen sich an. Gemeinsam krochen sie unter das Gebäude bis zur Zelle. Shevek schlug den einen Stützbalken weg, Tirin den anderen. Mit einem dumpfen Knall kippte die Gefängnistür um.
Kadagv lag zusammengerollt auf der Seite. Er setzte sich auf, kam dann ganz langsam hoch und kroch heraus. Er hielt sich unter der niedrigen Decke tiefer gebückt als notwendig. Er kniff die Augen vor dem Laternenlicht zusammen, sah aber nicht anders aus als sonst. Der Geruch allerdings, der mit ihm aus dem Loch kam, war unbeschreiblich. Aus irgendeinem Grund hatte er Durchfall bekommen. In der Zelle war alles verdreckt, und sogar auf seinem Hemd waren gelbe Fäkalienflecken. Als er sie im Licht entdeckte, versuchte er sie mit einer Hand zu verbergen. Keiner von ihnen sagte etwas.
Als sie unter dem Gebäude hervorgekrochen und auf dem Weg zum Kinderheim waren, fragte Kadagv: »Wie lange war's?«
»Mit den ersten vier insgesamt dreißig Stunden.«
»Ziemlich lange«, sagte Kadagv ohne rechte Überzeugung.
Nachdem sie ihn in einem Bad gesäubert hatten, begab sich Shevek im Laufschritt zu einer Latrine. Dort beugte er sich über eine Schüssel und erbrach sich. Eine Viertelstunde lang würgte er. Hinterher zitterte er vor Erschöpfung. Er setzte sich in den Gemeinschaftsraum des Kinderheims, las in einem Physikbuch und ging früh zu Bett. Keiner der fünf Jungen suchte je wieder das Gefängnis unter dem Lernzentrum auf. Keiner von ihnen erwähnte je wieder die Episode — außer Gibesh, der bei ein paar älteren Jungen und Mädchen einmal damit angab; aber die begriffen nichts, und so ließ er das Thema wieder fallen.
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