»Es ist völlig egal, wie man zielt. Der Stein kann den Baum einfach nicht erreichen.«
»Wer hat dich auf diese Idee gebracht?«
»Niemand. Ich hab's mir einfach so vorgestellt. Ich glaube, ich kann ganz deutlich sehen, wie der Stein…«
»Das reicht!«
Einige der anderen Kinder hatten zu schwatzen begonnen, hielten aber verblüfft inne. Der kleine Junge mit der Schiefertafel stand in einem Ring von Schweigen. Er war eingeschüchtert und machte ein finsteres Gesicht.
»Sprechen ist mit anderen teilen — eine kooperative Kunst. Du teilst aber nicht, du egoisierst.«
Vom anderen Ende des Korridors her kamen die dünnen, aber eifrigen Klänge des Orchesters.
»Du hast dir das nicht selbst ausgedacht, das war keine spontane Idee. Ich habe etwas ganz Ähnliches in einem Buch gelesen.«
Shevek starrte den Gruppenleiter an. »In welchem Buch? Gibt es eins hier?«
Der Gruppenleiter stand auf. Er war ungefähr doppelt so groß und dreimal so schwer wie sein Gegenüber, und in seinem Gesicht stand deutlich geschrieben, daß er eine starke Abneigung gegen den Jungen hegte; in seiner Haltung lag jedoch keinerlei körperliche Drohung, lediglich eine Betonung seiner Autorität, abgeschwächt allerdings ein wenig durch seine gereizte Antwort auf die merkwürdige Frage des Jungen: »Nein! Und hör mit dem Egoisieren auf!« Dann fuhr er in seinem üblichen freundlichen Ton fort: »Diese Darbietung widerspricht tatsächlich allem, was wir in unserer Sprech-und-Zuhör-Gruppe anstreben. Das Sprechen ist eine Zweiwegfunktion. Shevek kann das noch nicht verstehen, im Gegensatz zu euch anderen, deswegen stört er die Arbeit unserer Gruppe. Das merkst du doch selbst, nicht wahr, Shevek? Ich schlage vor, daß du dir eine andere Gruppe suchst, die deinem Niveau eher entspricht.«
Niemand sonst sagte etwas. Inmitten des Schweigens und der lauten, dünnen Musik des Orchesters gab der Junge die Tafel zurück und entfernte sich aus dem Kreis. Er ging in den Korridor hinaus und blieb dort stehen. Unter Leitung ihres Lehrers begann die Gruppe, die er verlassen hatte, eine Gemeinschaftsgeschichte zu erzählen, bei der die Kinder sich abwechselten. Shevek lauschte ihren gedämpften Stimmen und auf sein immer noch heftig klopfendes Herz. Seine Ohren klangen, aber das kam nicht von der Orchestermusik, sondern von der Anstrengung, aufsteigendes Weinen zu unterdrücken; er hatte dieses Klingen bereits mehrmals erlebt. Er hörte es nicht gern, und er wollte auch nicht mehr an den Stein und den Baum denken, darum konzentrierte er sich auf das Quadrat. Es bestand nur aus Zahlen, und Zahlen waren immer kühl und stabil; wenn er einen Fehler begangen hatte, konnte er getrost bei ihnen Zuflucht suchen, denn sie hatten keinen Fehler. Das Quadrat war vor einiger Zeit schon vor seinem inneren Auge erschienen, eine Figur im Raum, wie die Figuren, die die Musik in der Zeit zeichnete: ein Quadrat aus den ersten neun Zahlen mit der Fünf genau in der Mitte. Wie man die Reihen auch addierte, das Ergebnis war immer dasselbe, jede Ungleichheit war ausgeglichen. Es war hübsch anzusehen. Wenn er nur eine Gruppe finden könnte, die gern über solche Dinge sprach! Aber das taten nur ein paar der älteren Jungen und Mädchen, und die hatten viel zuviel zu tun. Was war das bloß für ein Buch, von dem der Gruppenleiter gesprochen hatte? War es ein ganzes Buch voller Zahlen? Ob da drin stand, wie der Stein den Baum erreichte? Es war dumm von ihm gewesen, diesen Scherz von dem Stein und dem Baum zu erzählen, keiner hatte erkannt, daß es ein Scherz war, der Gruppenleiter hatte recht. Sein Kopf schmerzte. Er blickte nach innen, nach innen auf die ruhigen Muster der Zahlen.
Wenn ein Buch nur aus Zahlen bestand, mußte es wahr sein. Gerecht sein. Was man in Worte faßte, kam niemals ganz richtig heraus. Mit Worten wurden die Dinge verdreht, liefen ineinander über, statt schön abgegrenzt zu sein und glatt ineinanderzugreifen. Unterhalb der Worte jedoch, in der Mitte, kam alles, wie in der Mitte des Quadrats, schön und gleichmäßig geordnet heraus. Man konnte alles total verändern, aber nichts würde verlorengehen. Wenn man die Zahlen sah, konnte man es genau erkennen, die Ausgewogenheit, das gleichmäßige Muster. Man sah die Fundamente der Welt. Und die waren fest.
Shevek hatte warten gelernt. Darin war er gut, ein Experte. Zuerst hatte er darauf zu warten gelernt, daß seine Mutter Rulag heimkehrte, obwohl das so lange her war, daß er sich nicht mehr daran erinnern konnte; und dann hatte er diese Fähigkeit vervollkommnet, indem er darauf wartete, daß die Reihe an ihm war, daß er teilen durfte, daß man mit ihm teilte. Mit acht Jahren fragte er zwar, warum und wie und was wäre, wenn, aber er fragte selten, wann.
Er wartete, bis sein Vater ihn zu einem Besuch im Wohnheim abholte. Darauf mußte er lange warten: sechs Dekaden. Palat hatte einen Kurzauftrag als Wartungstechniker beim Wasserrückgewinnungswerk am Drum-Berg angenommen und ging anschließend für eine Dekade auf Urlaub an den Strand von Malennin, wo er baden, ausruhen und mit einer Frau namens Pipar kopulieren konnte. Das hatte er alles seinem Sohn erklärt. Shevek hatte Vertrauen zu ihm, und er verdiente dieses Vertrauen. Als diese sechzig Tage vorüber waren, kam er zu den Kinderheimen von Wide Plains: ein hochgewachsener, magerer Mann, der trauriger wirkte denn je zuvor. Das Kopulieren war gar nicht das, was er eigentlich wollte. Er wollte Rulag. Als er seinen Jungen sah, lächelte er, und seine Stirn kräuselte sich vor innerem Schmerz.
Sie genossen das Zusammensein.
»Palat, hast du schon mal Bücher gesehen, in denen nur Zahlen stehen?«
»Was meinst du, Shevek — Mathematik?«
»Ich glaube schon.«
»So wie das hier?«
Aus seiner Tunika zog Palat ein Buch. Es war klein, damit man es in der Tasche tragen konnte, und wie die meisten Bücher hatte es einen grünen Einband mit dem eingeprägten Kreis des Lebens. Es war ganz voll gedruckt, mit kleinen Zahlen und schmalem Rand, denn Papier ist ein Material, zu dessen Herstellung man eine Menge Holumbäume und menschliche Arbeitskraft brauchte, wie der Materialverwalter im Lernzentrum immer betonte, wenn man eine Seite verpfuschte und sich eine neue holen wollte. Palat öffnete das Buch und zeigte es Shevek. Auf der Doppelseite waren Zahlenkolonnen zu sehen. Genau wie er es sich vorgestellt hatte. Er empfing die Gesetze ewiger Gerechtigkeit. Logarithmentafeln, Grundzahlen 10 und 12, hieß es auf dem Einband oberhalb des Lebenskreises.
Der Junge betrachtete die erste Seite. »Wozu ist das ?« erkundigte er sich, denn diese Zahlenreihen standen bestimmt nicht wegen ihrer Schönheit da. Und der Ingenieur versuchte ihm dort, auf der harten Couch in dem kalten, schlecht beleuchteten Gemeinschaftsraum des Wohnheims, die Logarithmen zu erklären. Zwei alte Männer hockten in einer Ecke des Raums über einem Spielbrett. Ein jugendliches Paar kam herein, fragte, ob das Einzelzimmer in dieser Nacht frei sei, und machte sich auf den Weg dorthin. Der Regen trommelte auf das Metalldach des einstöckigen Wohnheims, ließ nach und hörte auf. Es regnete nie sehr lange. Palat holte seinen Rechenschieber heraus und erklärte Shevek, wie man damit umging; dafür zeigte ihm Shevek das Quadrat und das Prinzip der Zahlenanordnung darin. Als sie merkten, wie spät es war, war es wahrhaftig sehr spät geworden. Zusammen liefen sie durch die herrliche regenfrische, morastige Dunkelheit zum Heim der Kinder und ließen eine nicht ganz ernst gemeinte Strafpredigt der Nachtwache über sich ergehen. Rasch küßten sie sich, lachten laut, und Shevek rannte in den großen Schlafsaal, ans Fenster, wo er seinem Vater nachblicken konnte, der in der nassen, belebenden Dunkelheit die einzige Straße von Wide Plains hinunterging.
Mit schmutzigen Beinen legte sich der Junge schlafen und träumte. Er träumte, daß er auf einer Straße wanderte, die durch ödes, leeres Land führte. Weit vorn verlief eine Linie quer über die Straße. Als er sich ihr näherte, sah er, daß es eine Mauer war. Von Horizont zu Horizont zog sie sich über das öde Land: fest, dunkel und sehr hoch. Die Straße lief direkt darauf zu und hörte auf.
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