Shevek streckte die Beine aus und beugte sich vor, um auch sein Gesicht an der Wärme des Feuers teilhaben zu lassen. »Ich fühle mich schwer.« — »Schwer?«
»Vielleicht ist es die Schwerkraft. Oder ich bin sehr müde.«
Er blickte den anderen an, doch durch die Glut des Kaminfeuers gesehen war sein Gesicht verschwommen; nur der goldene Schimmer einer schweren Kette und das dunkle Granatrot seines Talars war zu erkennen.
»Ich kenne Ihren Namen nicht.« — »Saio Pae.«
»Ach ja, Pae! Ich kenne Ihre Artikel über das Paradox.«
Er sprach schwerfällig, schläfrig.
»Irgendwo muß hier auch eine Bar sein. Höhere Mitglieder des Lehrkörpers haben immer einen Spirituosenschrank im Zimmer. Hätten Sie vielleicht gern einen Drink?«
»Ja, gern — Wasser.«
Als der junge Mann mit einem Glas Wasser wiederkam, gesellten sich auch die beiden anderen zu ihnen am Kamin. Shevek trank durstig das Wasser und starrte dann auf das Glas in seiner Hand, ein zerbrechliches, schön geformtes Gefäß, dessen Goldrand den Glanz des Feuers widerspiegelte. Er war sich der Gegenwart der drei Männer und ihres Verhaltens bewußt; es war beschützend, respektvoll, besitzergreifend. Er blickte zu ihnen auf, betrachtete ein Gesicht nach dem anderen. Alle sahen ihn erwartungsvoll an. »Nun, jetzt haben Sie mich«, sagte er lächernd. »Jetzt haben Sie Ihren Anarchisten. Was werden Sie mit ihm anfangen?«
Vor einem rechteckigen Fenster in einer weißen Wand steht der klare, freie Himmel. In der Mitte des Himmels steht die Sonne.
Es sind elf Kleinkinder in diesem Zimmer, die meisten zu zweit oder zu dritt in großen, gepolsterten Laufställen. Sie begeben sich unter Geplapper und Gezappel allmählich zur Ruhe. Nur die beiden ältesten laufen frei herum: ein dickes, aktives Kind, das gerade ein Spielbrett mit Pflöcken auseinandernimmt, und ein knochigeres, das mitten in dem gelben Sonnenlichtquadrat des Fensters sitzt und mit ernster, verständnisloser Miene an den Sonnenstrahlen entlang nach oben blickt.
Im Vorzimmer unterhält sich die Hausmutter, eine einäugige, grauhaarige Frau, mit einem hochgewachsenen, bedrückt wirkenden Mann von etwa dreißig Jahren. »Seine Mutter ist nach Abbenay versetzt worden«, erklärt der Mann. »Sie möchte, daß er hier untergebracht wird.«
»Dann soll er ganztags bei uns bleiben, Palat?«
»Ja. Ich ziehe wieder in ein Wohnheim.«
»Keine Sorge, er kennt uns hier alle! Aber Arbteil wird dich doch sicher auch dorthin schicken, wo Rulag ist. Schließlich seid ihr beiden ja Partner und außerdem beide Ingenieure.«
»Stimmt, aber sie ist... Das Zentralinstitut für Technik hat sie angefordert. Ich bin nicht so gut wie sie. Rulag hat eine großartige Arbeit vor sich.«
Die Hausmutter nickte seufzend. »Trotzdem…«, sagte sie energisch, aber weiter sagte sie nichts.
Der Blick des Vaters ruhte auf dem knochigen Kind, das ihn im Vorzimmer noch nicht bemerkt hatte, da es zu sehr von dem Licht in Anspruch genommen war. In diesem Augenblick kam der kleine Dicke eilig auf ihn zugelaufen — mit einem sonderbaren Watscheln, weil ihm eine nasse Windel zwischen den Beinen hing. Er kam entweder aus Langeweile oder weil er Gesellschaft suchte, als er jedoch das Sonnenviereck erreichte, entdeckte er, daß es dort warm war. Mit einem Plumps ließ er sich neben dem Knochigen nieder und drängte diesen in den Schatten.
Die stille Hingabe des Knochigen wich einer finster-zornigen Grimasse. Er versetzte dem Dicken einen Stoß und schrie: »Geh weg!«
Sofort war die Hausmutter zur Stelle. Sie richtete den Dicken wieder auf. »Shev, man darf andere Leute nicht schubsen!«
Der knochige kleine Junge stand auf. Sein Gesicht glühte vom Sonnenlicht und vom Zorn. Seine Windeln hatten sich gelöst. »Meins!« rief er mit hoher, tönender Stimme. »Sonne — meins!«
»Das ist nicht deine Sonne«, korrigierte ihn die Einäugige sanft, aber entschieden. »Nichts gehört dir allein. Alles ist nur zum Gebrauch da, zum Teilen mit anderen. Wenn du etwas nicht teilen willst, dann kannst du es auch nicht benutzen.« Damit hob sie den knochigen kleinen Jungen auf und setzte ihn außerhalb des Sonnenvierecks wieder zu Boden. Der Dicke saß da und starrte gleichgültig vor sich hin. Der Knochige zitterte am ganzen Körper, schrie: »Sonne — meins!« und brach in zorniges Weinen aus.
Der Vater nahm ihn auf den Arm und drückte ihn an sich. »Na, na, aber Shev!« sagte er beruhigend. »Du weißt doch, daß man Dinge nicht besitzen kann. Was ist los mit dir?« Seine Stimme war leise und unsicher, als drohe auch er gleich in Tränen auszubrechen. Das magere, lange, leichte Kind in seinen Armen weinte hemmungslos.
»Es gibt immer einige, die das Leben schwernehmen«, sagte die Einäugige, die mitleidig zusah.
»Ich werde ihn jetzt mit ins Wohnheim nehmen. Seine Mutter fährt heute abend ab.«
»Natürlich. Hoffentlich werdet ihr bald irgendwo miteinander eingesetzt«, antwortete die Hausmutter, die sich den kleinen Dicken wie einen Mehlsack unter den Arm klemmte. Ihre Miene war bedrückt, mit dem gesunden Auge aber zwinkerte sie. »Wiedersehen, Shev, mein kleines Herzblatt! Morgen, hörst du, morgen spielen wir beide Lastwagenfahren.«
Aber der Kleine hatte ihr noch nicht verziehen. Schluchzend klammerte er sich an des Vaters Hals und barg sein Gesicht in der Dunkelheit der verlorenen Sonne.
Das Orchester hielt an diesem Vormittag alle Bänke für seine Probe besetzt, und im großen Saal des Lernzentrums hüpfte die Tanzgruppe herum, daher hatten sich die Kinder, die zur Sprech-und-Zuhör-Gruppe gehörten, im Kreis auf den Schaumsteinboden der Werkstatt gesetzt. Der erste Freiwillige, ein schlaksiger Achtjähriger mit übergroßen Händen und Füßen, erhob sich. Er hielt sich, wie alle gesunden Kinder, sehr aufrecht; sein ganz leicht flaumiges Gesicht war zuerst sehr blaß, wurde dann aber, während er darauf wartete, daß ihm die anderen Kinder zuhörten, hochrot. »Fang an, Shevek«, sagte der Gruppenleiter.
»Na ja, ich hab da so eine Idee.«
»Lauter«, forderte der Gruppenleiter, ein untersetzter Mann Anfang Zwanzig.
Der Junge lächelte verlegen. »Na ja, ich habe mir gedacht, sagen wir, ich werfe einen Stein. An einen Baum. Ich werfe also, der Stein fliegt durch die Luft und trifft den Baum. Nicht wahr? Aber das kann er nicht. Weil nämlich… Bitte, könnte ich mal die Tafel haben? Paßt auf, hier, das bin ich, wie ich den Stein werfe, und das da ist der Baum.« Er malte etwas auf die Tafel. »Das soll ein Baum sein, und hier, seht ihr, das ist der Stein, mitten dazwischen.« Die Kinder kicherten über seine Darstellung eines Holumbaums, und er lächelte ebenfalls. »Um nun von mir zum Baum zu kommen, muß der Stein irgendwann einmal mitten zwischen mir und dem Baum sein, versteht ihr ? Und dann muß er mitten zwischen der Mitte und dem Baum sein. Und dann muß er mitten zwischen der zweiten Mitte und dem Baum sein. Ganz gleich also, wie weit er schon geflogen ist, es gibt immer eine Stelle, oder vielmehr einen Zeitpunkt, der mitten zwischen der letzten Stelle, an der er sich befand, und dem Baum liegt…«
»Findet ihr das interessant?« fiel ihm der Gruppenleiter, an die anderen Kinder gewandt, ins Wort.
»Warum kann der Stein den Baum nicht erreichen?« fragte ein zehnjähriges Mädchen.
»Weil er stets erst die Hälfte des Wegstücks zurücklegen muß, das er noch vor sich hat«, antwortete Shevek, »und weil dann stets die andere Hälfte des Wegs noch vor ihm liegt — versteht ihr?«
»Wollen wir nicht einfach sagen, daß du schlecht gezielt hast?« meinte der Gruppenleiter mit verkniffenem Lächeln.
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