Er hatte gefragt, warum keine Frauen auf dem Schiff waren, und Kimoe hatte erwidert, der Dienst auf einem Raumfrachter sei eben keine Frauenarbeit. Durch Geschichtskurse und durch seine Kenntnis der Schriften Odos hatte Shevek einen Anhaltspunkt, aufgrund dessen er diese tautologische Antwort verstand, daher sagte er nichts weiter. Aber der Arzt stellte ihm nunmehr eine Frage, eine Frage über Anarres. »Trifft es zu, Dr. Shevek, daß die Frauen in Ihrer Gesellschaft genauso behandelt werden wie die Männer?«
»Das wäre Verschwendung guten Materials«, antwortete Shevek mit kurzem Lachen und lachte gleich darauf noch einmal, als ihm die Komik dieser Vorstellung bewußt wurde.
Der Arzt zögerte, weil er offenbar einen Weg um eins der Hindernisse in seinem Bewußtsein herum suchte; dann machte er ein verlegenes Gesicht und sagte: »O nein, ich meinte nicht sexuell... Anscheinend haben Sie… Ich meinte, hinsichtlich ihres gesellschaftlichen Status…«
»Ist ›Status‹ dasselbe wie ›Klasse‹?«
Kimoe versuchte den Begriff Status zu erklären, da ihm das jedoch nicht gelang, kehrte er zum ersten Thema zurück. »Gibt es wirklich keinen Unterschied zwischen Männerarbeit und Frauenarbeit?««
»Nun ja — nein. Das wäre doch eine sehr mechanische Grundlage für die Arbeitsteilung, nicht wahr? Jeder wählt seine Arbeit nach seinen Interessen, seiner Begabung und seiner Körperkraft. Was hat das Geschlecht damit zu tun?«
»Männer sind körperlich stärker«, verkündete der Arzt mit professioneller Bestimmtheit.
»Das stimmt — häufig. Und auch größer. Aber was spielt das für eine Rolle, da wir ja doch Maschinen haben? Und selbst wenn wir keine Maschinen haben, wenn wir mit dem Spaten graben oder Lasten auf unserem Rücken tragen müssen, arbeiten die Männer zwar möglicherweise schneller — die großen —, die Frauen aber arbeiten länger… Ich habe mir oft genug gewünscht, so zäh und belastbar zu sein wie eine Frau.«
Kimoe starrte ihn fassungslos an; sein Schock war so groß, daß er die Höflichkeit vergaß. »Aber dann geht doch alles verloren… alles Weibliche, alles Zarte… und die männliche Selbstachtung… Sie können mir doch nicht weismachen, daß die Frauen Ihnen auf Ihrem Fachgebiet gleichrangig sind ? In der Physik, in der Mathematik, hinsichtlich des Intellekts ? Sie können mir doch nicht weismachen, daß Sie sich ständig auf deren Niveau hinabbegeben?«
Shevek saß in dem weichen, bequemen Sessel und sah sich in der Offiziersmesse um. Auf dem Bildschirm hing der strahlend helle Kreis, der Urras war, immer noch vor dem Schwarz des Weltraums, leuchtend wie ein blaugrüner Opal. Dieser zauberhafte Anblick, dieser Meßraum waren Shevek in diesen letzten Tagen vertraut geworden, doch nun plötzlich erschienen ihm die schönen Farben, die körpergerechten Sessel, die indirekte Beleuchtung, die Spieltische, Fernsehgeräte und weichen Teppiche, erschien ihm das alles auf einmal so fremd wie im allerersten Augenblick.
»Ich glaube kaum, daß ich irgend jemandem jemals etwas weiszumachen versuche, Kimoe«, sagte er.
»Gewiß, ich habe auch hochintelligente Frauen kennengelernt, Frauen, die logisch denken konnten wie ein Mann«, räumte der Arzt hastig ein. Er merkte, daß er beinahe geschrien hatte, daß er, wie Shevek fand, mit beiden Händen an die verschlossene Tür gehämmert und geschrien hatte…
Shevek lenkte das Gespräch auf ein anderes Thema, mußte aber weiterhin über dieses nachdenken. Die Frage der Überlegenheit und Minderwertigkeit mußte im Gesellschaftsleben der Urrasti eine wichtige Rolle spielen. Wenn Kimoe, um seine Selbstachtung zu erhalten, die Hälfte der menschlichen Rasse als minderwertig betrachten mußte, wie erhielten sich dann die Frauen ihre Selbstachtung — betrachteten sie die Männer als minderwertig? Und wie wirkte sich all das auf ihr Sexualleben aus? Durch Odos Schriften wußte er, daß die hauptsächlichsten sexuellen Institutionen der Urrasti vor zweihundert Jahren die ›Ehe‹, eine von rechtlichen und wirtschaftlichen Sanktionen autorisierte und durchgesetzte Partnerschaft, und die ›Prostitution‹ gewesen waren, welch letztere lediglich ein etwas weiter gefaßter Terminus zu sein schien, Kopulation im ökonomischen Modus. Odo hatte sie beide verurteilt; und dennoch war Odo selber ›verheiratet‹ gewesen; außerdem mochten sich die Institutionen in diesen zweihundert Jahren weitgehend verändert haben. Wenn er auf Urras und mit den Urrasti leben wollte, war es wichtig, daß er das feststellte.
Sonderbar, daß sogar der Sex, für ihn seit so vielen Jahren Quelle des Trostes, des Vergnügens und der Freude, über Nacht zu einem unbekannten Territorium werden konnte, wo er sich vorsichtig bewegen und seine Unkenntnis einsehen mußte; aber so war es. Er war nun vorgewarnt — nicht nur durch Kimoes merkwürdigen Ausbruch von Zorn und Verachtung, sondern auch durch einen vorangegangenen, vagen Eindruck, den diese Episode nun wieder wachrief. In der ersten Zeit an Bord des Schiffes, in jenen langen Stunden des Fiebers und der Verzweiflung, war er immer wieder, zuweilen angenehm, zuweilen unangenehm, von einer ungeheuer simplen Sinnes Wahrnehmung abgelenkt worden: der Weiche des Bettes. Obwohl es nur eine Koje war, gab die Matratze mit zärtlicher Geschmeidigkeit unter seinem Körpergewicht nach. Sie gab sich ihm hin, so nachdrücklich, daß er sich dieser Tatsache noch bewußt war, als er schon einschlief. Und sowohl das angenehme als auch das unangenehme Gefühl, das dadurch in ihm hervorgerufen wurde, waren ganz eindeutig erotisch. Genauso wie dieser Heißlufttrockner: dieselbe Wirkung. Ein Prickeln. Und das Design der Möbel in der Offiziersmesse, die weich geschwungenen, plastischen Kurven, in die starres Holz und harter Stahl gezwungen worden waren, die glatten, feinen Oberflächen und Texturen: war das alles nicht auch von einem leichten, aber unverwechselbaren Hauch Sexualität umgeben? Er selbst kannte sich gut genug, um genau zu wissen, daß ein paar Tage ohne Takver ihn auch unter starkem Streß nicht so anfällig für sexuelle Erregung machen konnte, daß er in jeder Tischplatte eine Frau spürte. Es sei denn, es war wirklich eine Frau dabei.
Lebten die Urrasti-Tischler alle im Zölibat?
Er gab es auf; er würde es bald genug erfahren — auf Urras.
Unmittelbar bevor sie sich für die Landung anschnallten, kam der Arzt zu ihm in die Kabine, um den Fortschritt der verschiedenen Impfungen zu kontrollieren, deren letzte, eine Pestimpfung, Shevek ziemlich krank gemacht hatte. Kimoe gab ihm eine neue Pille. »Das wird Sie für die Landung aufmöbeln«, erklärte er. Stoisch schluckte Shevek das Ding. Der Arzt beugte sich über seine Tasche und begann plötzlich sehr schnell zu sprechen: »Dr. Shevek, ich glaube kaum, daß ich Sie weiter behandeln darf, obwohl eine gewisse Möglichkeit besteht, aber wenn nicht, möchte ich Ihnen sagen, daß ich… daß es mir eine große Ehre gewesen ist. Nicht, weil… Sondern weil ich Sie kennenlernen durfte und sehr hoch achte… weil ich gestehen muß… daß mir als Mensch Ihre Freundlichkeit, Ihre echte Freundlichkeit…«
Da Shevek aufgrund seiner Kopfschmerzen keine passendere Antwort einfiel, ergriff er Kimoes Hand, drückte sie herzlich und sagte: »Dann wollen wir uns Wiedersehen, Bruder!« Kimoe schüttelte Sheveks Hand nach Art der Urrasti und eilte hinaus. Als er fort war, merkte Shevek, daß er Pravic mit ihm gesprochen und ihn in dieser Sprache, die Kimoe nicht verstand, ›ammar‹ — ›Bruder‹, genannt hatte.
Der Wandlautsprecher blökte Befehle. Auf seiner Koje festgeschnallt, lauschte Shevek benommen und desinteressiert. Die Auswirkungen des Eintritts in die Atmosphäre verstärkten seine Benommenheit; er dachte einzig und allein daran, daß er sich nicht übergeben wollte. Daß sie gelandet waren, wußte er nicht, bis Kimoe wieder hereingeeilt kam und ihn drängte, mit in die Offiziersmesse zu kommen. Der Bildschirm, auf dem von Wolken umringt und hell leuchtend Urras gehangen hatte, war dunkel. Der Raum war voller Menschen. Woher waren sie alle gekommen? Er war überrascht und erfreut darüber, daß er stehen, gehen und Hände schütteln konnte. Einzig darauf konzentrierte er sich, kümmerte sich nicht um die Bedeutung. Stimmen, Lächeln, Hände, Worte, Namen. Immer wieder sein Name: Dr. Shevek, Dr. Shevek… Jetzt schritt er mit all den Fremden, die ihn umringten, eine gedeckte Gangway hinab, wo alle Stimmen sehr laut klangen und die Worte von den Wänden zurückgeworfen wurden. Dann wurde das Stimmengewirr dünner. Eine fremdartige Luft berührte sein Gesicht. — Er blickte empor, und als er von der Gangway auf den ebenen Boden hinuntertreten wollte, stolperte er und wäre fast gefallen. In diesem Zeitraum zwischen dem Beginn eines Schritts und seiner Vollendung dachte er an den Tod; und nach der Vollendung des Schritts stand er auf einer neuen Erde.
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