Der Arzt untersuchte die Prellung an seiner Schulter (die Prellung verblüffte Shevek; er war zu nervös und hektisch gewesen, um zu merken, was sich auf dem Landefeld abspielte, und hatte überhaupt nicht gefühlt, daß er von einem Stein getroffen wurde). Jetzt kam der Arzt mit einer Injektionsspritze auf ihn zu.
»Ich will das nicht«, sagte Shevek. Sein lotisch war sehr langsam und seine Aussprache, wie er von seinem Funkverkehr wußte, schlecht, aber er sprach grammatikalisch richtig. Mit dem Verstehen hatte er größere Schwierigkeiten als mit dem Sprechen.
»Das ist nur ein Impfstoff gegen Masern«, erklärte der Arzt, der gegen Proteste taub war.
»Nein«, wiederholte Shevek.
Sekundenlang biß sich der Arzt auf die Lippe. Dann fragte er: »Wissen Sie, was Masern sind, Sir?«
»Nein.«
»Eine Krankheit. Ansteckend. Bei Erwachsenen häufig mit schwerem Verlauf. Bei Ihnen auf Anarres gibt es diese Krankheit nicht; sie wurde durch prophylaktische Maßnahmen ausgeschaltet, als der Planet besiedelt wurde. Auf Urras kommt sie häufig vor. Sie könnten daran sterben. Daran und an einem Dutzend anderer Virusinfektionen. Sie haben keine Abwehrkräfte dagegen. Sind Sie Rechtshänder, Sir?«
Automatisch schüttelte Shevek den Kopf. Mit der Geschicklichkeit eines Taschenspielers stieß der Arzt die Nadel in seinen rechten Arm. Schweigend ließ Shevek auch die anderen Injektionen über sich ergehen. Er hatte kein Recht, mißtrauisch zu sein oder zu protestieren. Er hatte sich in die Hände dieser Menschen gegeben; er hatte auf sein angeborenes Recht auf freie Entscheidung verzichtet. Es war fort, von ihm abgefallen wie seine Welt, die Welt der Verheißung, der nackte Stein.
Wieder sagte der Arzt etwas, aber Shevek hörte nicht zu.
Stunden- oder tagelang existierte er in einem Vakuum, in einer trockenen, elenden Leere ohne Vergangenheit und Zukunft. Die Wände engten ihn ein. Draußen war nur Stille. Seine Arme und Gesäßmuskeln schmerzten von den Injektionen; er bekam Fieber, das sich zwar nicht zum Delirium steigerte, ihn aber in einem schwerelosen Zustand zwischen Vernunft und Unvernunft hielt, in einem Niemandsland des Geistes. Die Zeit verging nicht. Es gab keine Zeit. Er war die Zeit: nur er. Er war der Fluß, der Pfeil, der Stein. Aber er rührte sich nicht. Der geschleuderte Stein hing immer noch in der Luft. Es gab weder Tag noch Nacht. Manchmal machte der Arzt das Licht an oder aus. Neben dem Bett war eine Uhr in die Wand eingelassen; ihr Zeiger wanderte von einer der zwanzig Zahlen des Zifferblatts zur anderen, sinnlos, bedeutungslos.
Als er nach langem, tiefem Schlaf erwachte, betrachtete er verschlafen die Uhr, der er das Gesicht zukehrte. Der Zeiger hatte gerade die 15 hinter sich gelassen, und das mußte, wenn man das Zifferblatt, wie die Anarresti-Uhr mit den vierundzwanzig Stunden, von Mitternacht ausgehend ablas, bedeuten, daß es Nachmittag war. Aber wie konnte es im Raum zwischen zwei Welten Nachmittag sein? Nun gut, wahrscheinlich galt auf dem Schiff eine eigene Zeit. All diese logischen Schlußfolgerungen gaben ihm Mut. Er richtete sich auf und war überhaupt nicht mehr krank. Er stieg aus dem Bett und testete seinen Gleichgewichtssinn: zufriedenstellend, obwohl seine Fußsohlen keinen allzu festen Kontakt mit dem Boden zu haben schienen. Offenbar war das Schwerkraftfeld des Schiffes recht schwach. Dieses Gefühl behagte ihm nicht; er brauchte Standfestigkeit, soliden Boden, konkrete Tatsachen. Und auf der Suche danach begann er sein kleines Zimmer methodisch zu sondieren.
Die kahlen Wände bargen zahllose Überraschungen, die jeweils durch einen Druck auf die Verkleidung zum Vorschein kamen: Waschbecken, Nachtstuhl, Spiegel, Schreibtisch, Sessel, Schrank, Regale. Mit dem Waschbecken waren mehrere ganz und gar mysteriöse elektrische Geräte verbunden, und der Wasserhahn schloß sich nicht von selbst, wenn man ihn losließ, sondern spie Wasser, bis man ihn abstellte — für Shevek ein Zeichen entweder für uneingeschränktes Vertrauen in die Natur des Menschen oder für immense Vorräte an heißem Wasser. Er entschied sich für die zweite Vermutung, wusch sich von Kopf bis Fuß und trocknete sich, da er kein Handtuch fand, mit einem jener mysteriösen Geräte ab, das einen angenehm prickelnden warmen Luftstrom von sich gab. Da er seine eigenen Kleider nicht fand, zog er diejenigen wieder an, in denen er aufgewacht war: eine lose sitzende, oben zugebundene Hose und eine weite Tunika, beides hellgelb, mit kleinen blauen Punkten bedruckt. Er betrachtete sich im Spiegel. Sein Anblick gefiel ihm nicht. Kleidete man sich so auf Urras? Vergeblich suchte er einen Kamm, begnügte sich sodann damit, sein langes Haar im Nacken zu flechten, und wollte derart frisch gemacht das Zimmer verlassen.
Es ging nicht. Die Tür war verschlossen.
Sheveks erste Ungläubigkeit verwandelte sich in Wut, in eine blinde Wut voller Gewalttätigkeit, wie er sie in seinem ganzen Leben noch nicht empfunden hatte. Er zerrte an dem unbeweglichen Türgriff, hämmerte mit beiden Händen gegen das glatte Metall der Tür, machte dann kehrt und drückte auf den Rufknopf, den er, wie ihm der Arzt erklärt hatte, im Notfall betätigen sollte. Nichts rührte sich.
Es gab noch eine Menge anderer kleiner, mit Nummern versehener Knöpfe verschiedener Farben auf der Intercom-Tafel; mit der flachen Hand drückte er alle auf einmal. Der Wandlautsprecher begann zu plappern: »Verdammt wer ja komme sofort laut und deutlich was von zweiundzwanzig…«
Shevek überbrüllte sie alle: »Schließt die Tür auf!«
Die Tür glitt zur Seite, der Arzt kam herein. Beim Anblick seines kahlen Schädels mit dem besorgten, gelblichen Gesicht legte sich Sheveks Wut ein wenig und zog sich in eine innere Dunkelheit zurück. »Die Tür war verschlossen«, sagte er.
»Tut mir leid, Dr. Shevek — eine Vorsichtsmaßnahme — Ansteckungsgefahr — damit die anderen nicht herein können…«
»Damit ich nicht hinaus kann, damit andere nicht herein können, alles dasselbe«, erwiderte Shevek, der mit hellen, fernen Augen auf den kleinen Arzt hinabblickte.
»Sicherheitsmaßnahmen…«
»Sicherheitsmaßnahmen? Muß man mich deswegen in einen Kasten einsperren?«
»Die Offiziersmesse«, schlug der Arzt eilfertig, beruhigend vor. »Haben Sie Hunger, Sir? Vielleicht sollten Sie sich jetzt anziehen, damit wir in die Messe gehen können.«
Shevek betrachtete die Kleider des Arztes: enge, blaue Hosen, in Stiefel gesteckt, die so glatt und fein aussahen, als wären sie ebenfalls aus Tuch; eine vorn offene, mit Silberverschnürungen geschlossene Tunika; und darunter, nur am Hals und an den Handgelenken hervorschauend, ein Strickhemd von blendendem Weiß.
»Bin ich denn nicht angezogen?« erkundigte sich Shevek schließlich.
»O doch, Sie können gern Ihren Pyjama anbehalten. Auf einem Frachter geht's nicht besonders formell zu.«
»Pyjama?«
»Was Sie da anhaben. Schlafanzug.«
»Ein Anzug, den man beim Schlafen trägt?«
»Ja.«
Shevek machte langsam die Augen zu und wieder auf. »Wo sind meine eigenen Kleider?« fragte er dann.
»Ihre Kleider? Die habe ich reinigen — sterilisieren lassen. Hoffentlich haben Sie nichts dagegen, Sir…« Er schaute hinter ein Wandstück, das Shevek noch nicht bemerkt hatte, und holte ein in hellgrünes Papier gewickeltes Paket hervor. Er nahm Sheveks alten Anzug heraus, der sehr sauber und irgendwie geschrumpft aussah, knüllte das grüne Papier zusammen, drückte auf einen anderen Teil der Wandverkleidung, warf das Papier in die Tonne, die erschien, und lächelte unsicher. »Bitte sehr, Dr. Shevek.«
»Was geschieht mit dem Papier?«
»Mit dem Papier?«
»Mit dem grünen Papier.«
»Ach so! Das habe ich in den Abfall geworfen.«
»Abfall?«
»Müll. Wird verbrannt.«
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