„In meinem eigenen, und nur in meinem eigenen!“, stieß der andere verächtlich zwischen den Zähnen hervor. „Lange genug habe ich mich um die Menschheit und um das allgemeine Wohl gekümmert! Jetzt habe ich begriffen, dass der Mensch das alles nicht braucht. Auch einige weise Männer der alten Zeit wussten das.“
„Sie haben niemals an andere gedacht, Bet Lon“, unterbrach ihn der Afrikaner. „Sie haben sich in allem gehen lassen, bis Sie zu dem geworden sind, was Sie heute sind — ein Gewalttäter, ja, fast ein Tier!“
Der Mathematiker machte eine Bewegung, als wollte er sich auf Mwen Maas stürzen, aber dann beherrschte er sich.
„Mir reicht’s, Sie reden zu viel!“
„Ich sehe, dass Sie zu viel verloren haben, und ich will…“
„Aber ich will nicht! Aus dem Weg!“
Mwen Maas rührte sich nicht von der Stelle. Mit leicht gesenktem Haupt stand er selbstsicher und drohend vor Bet Lon und fühlte die Berührung der Schultern des zitternden Mädchens. Und dieses Zittern erfüllte ihn mit weit größerer Erbitterung als die Schläge, die er hatte einstecken müssen.
Der Mathematiker sah, ohne sich zu bewegen, in die zornentbrannten Augen des Afrikaners.
„Gehen Sie!“, stieß er laut hervor und gab den Weg frei.
Mwen Maas nahm Onar wieder an der Hand und führte sie zwischen die Sträucher hindurch. Er konnte Bet Lons hasserfüllten Blick auf seinem Rücken spüren. An der Wegbiegung blieb Mwen Maas so plötzlich stehen, dass Onar gegen seinen Rücken rannte.
„Bet Lon, lassen Sie uns gemeinsam in die Große Welt zurückkehren!“
Der Mathematiker lachte, doch Mwen Maas’ geschultes Ohr vernahm einen Anflug von Bitterkeit in der zynischen Ablehnung.
„Wer sind Sie, dass Sie mir so etwas vorschlagen? Wissen Sie überhaupt…?“
„Ich weiß. Ich habe ebenfalls ein verbotenes Experiment durchgeführt und mir anvertraute Menschen ins Verderben gestürzt. Ich bin ähnliche Wege wie Sie in der Forschung gegangen, und wir… Sie, ich und andere sind dem Sieg schon ganz nahe! Die Menschen brauchen Sie, nur nicht so, wie Sie jetzt sind…“
Der Mathematiker trat einen Schritt auf Mwen Maas zu und senkte den Blick zu Boden, doch dann drehte er sich plötzlich um und entfernte sich eilig, wobei er dem Afrikaner unflätige Worte des Verzichts über die Schulter zuwarf. Wortlos setzte Mwen Maas seinen Weg fort.
Bis zur fünften Siedlung waren es noch ungefähr zehn Kilometer.
Als der Afrikaner hörte, dass das Mädchen ganz allein lebte, riet er ihr, an die Ostküste, in die Küstensiedlungen zu ziehen, um dem grausamen und rohen Menschen nicht mehr begegnen zu müssen. Der einst berühmte Wissenschaftler hatte sich in dem ruhigen und abgeschiedenen Leben der kleinen Bergsiedlungen zu einem Tyrannen entwickelt. Um ähnlichen Vorfällen vorzubeugen, beschloss Mwen Maas, die Menschen der Siedlung unverzüglich darum zu bitten, diesen Mann zu beobachten. Am Eingang zur Siedlung verabschiedete sich Mwen Maas von Onar. Das Mädchen riet ihm noch, sich vor den Tigern in Acht zu nehmen, die angeblich vor Kurzem wieder in den Wäldern des kuppelförmigen Berges aufgetaucht seien. Die wilden Tiere waren entweder aus dem Naturschutzpark ausgebrochen oder lebten noch immer in dem undurchdringlichen Urwald, der diesen höchsten Berg der Insel umgab. Sie ergriff seine Hand und bat ihn, vorsichtig zu sein und auf keinen Fall nachts den Berg zu überqueren. Mwen Maas machte sich eilig auf den Rückmarsch, und während er das Vorgefallene in Gedanken nochmals durchging, sah er vor sich immer wieder den letzten Blick des Mädchens, der voll Sorge und Anhänglichkeit war. Zum ersten Mal dachte Mwen Maas an die wahren Helden der fernen Vergangenheit, die trotz Erniedrigung, Bosheit und physischen Leids in einem mächtigen Reich von tierischer Selbstsucht eine wahrhaft große Heldentat begingen, indem sie wahre und gute Menschen blieben.
Die Zwiespältigkeit des Lebens an sich hatte den Menschen stets mit Widersprüchen konfrontiert. In der alten Welt, inmitten von Gefahren und Demütigungen, war die Kraft der Liebe, Ergebenheit und Sanftmut gerade am Rande des Todes oder in feindseliger und roher Umgebung am größten gewesen. Die Unterwerfung unter die Launen roher Macht ließ alles vergänglich und unsicher erscheinen. Das Schicksal des einzelnen Menschen konnte sich in jedem beliebigen Augenblick radikal ändern, seine Pläne, Hoffnungen und Vorhaben zunichtemachen, da in der ungeordneten Gesellschaft der alten Zeit zu viel von Zufälligkeiten abhing. Doch diese Vergänglichkeit von Hoffnung, Liebe und Glück ließ die Gefühle nicht verflachen, sondern stärkte sie noch.
Das war der Grund, weshalb das Gute im Menschen selbst unter den schwersten Prüfungen der Sklaverei des Mittelalters oder der Ära der Uneinigen Welt nicht abgetötet werden konnte.
Zum ersten Mal dachte der Afrikaner daran, dass es auch im alten Leben, das dem modernen Menschen so hart erschien, Glück, Hoffnung, Schöpfertum gegeben haben musste, ja, mitunter sogar in einem stärkeren Ausmaß als jetzt in der stolzen Ära des Rings.
Fast zornig erinnerte sich Mwen Maas an die Theorien damaliger Wissenschaftler, die von einer falsch verstandenen Langsamkeit bei der Mutation von Spezies in der Natur ausgingen und vorhersagten, die Menschheit würde sich selbst in Millionen von Jahren nicht bessern.
Hätten sie die Menschen mehr geliebt und die Dialektik der Entwicklung verstanden, dann wäre ihnen niemals ein solcher Unsinn eingefallen!
Die untergehende Sonne hatte die Wolkendecke hinter dem abgerundeten Rücken des gigantischen Berges rot gefärbt. Mwen Maas sprang in einen kleinen Fluss.
Erfrischt und endlich etwas beruhigt, setzte er sich auf einen flachen Stein, um sich trocknen zu lassen und ein wenig auszuruhen. Vor Einbruch der Dunkelheit würde er die kleine Stadt nicht mehr erreichen. Daher beschloss er, nach Mondaufgang den Berg zu überqueren. Als er gedankenverloren in das zwischen den Steinen brodelnde Wasser blickte, fühlte er plötzlich, dass er von jemandem beobachtet wurde, konnte aber niemanden sehen. Dieses Gefühl, von unsichtbaren Blicken verfolgt zu werden, verließ ihn auch nicht, als er den Fluss überquerte und den Aufstieg begann.
Mit raschen Schritten schritt Mwen Maas den von Fuhrwerken festgefahrenen Weg entlang, der auf ein Plateau von eintausendachthundert Metern führte. Er passierte eine Terrasse nach der anderen, um den bewaldeten Ausläufer des Bergs zu überqueren und auf kürzestem Weg in die Stadt zu gelangen. Die schmale Sichel des Neumondes würde den Weg nicht länger als anderthalb Stunden beleuchten, und der steile Bergpfad würde in einer mondlosen Nacht nur schwer zu bewältigen sein. Mwen Maas beeilte sich. Die spärlichen und niedrigen Bäume warfen lange Schatten, die Fächer schwarzer Streifen über den vom Mond beleuchteten trockenen Waldboden legten. Mwen Maas achtete aufmerksam auf den Weg, um nicht über die unzähligen kleinen Wurzeln zu stolpern, und hing seinen Gedanken nach.
Da ertönte auf der rechten Seite in einiger Entfernung, wo der Abhang flacher war und in tiefem Schatten lag, ein drohendes Knurren, das den Boden erzittern ließ. Es wurde mit einem tiefen Brüllen aus dem Wald beantwortet. In diesen Lauten lag eine Kraft, die durch Mark und Bein ging und längst vergessene Gefühle der Angst und der Hilflosigkeit wachrief, wie sie das Opfer eines unbezwingbaren Raubtiers empfand. Aber genauso, wie der Widerstand gegen diese alte Angst wuchs, so flammte auch die nicht weniger alte Kampfeswut in ihm auf, das Erbe unzähliger Generationen von namenlosen Helden, die das Recht des Menschengeschlechts auf Leben inmitten von Mammuts, Löwen, Riesenbären, wilden Stieren und grausamen Wolfsrudeln in den zermürbenden Tagen der Jagd und den Nächten hartnäckiger Abwehr verteidigt hatten.
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