Auf der Insel des Vergessens gab es an die zweihundert medizinische Stationen, wo Ärzte aus der Großen Welt die Einwohner mit allem, was die moderne Medizin vermochte, freiwillig versorgten. Auch Jugendliche aus der Großen Welt arbeiteten in den Schädlingsbekämpfungstrupps, damit die Insel nicht zu einer Brutstätte vergessener Krankheiten oder schädlicher Tiere wurde. Mwen Maas ging diesen Menschen absichtlich aus dem Weg, um nicht das Gefühl haben zu müssen, er sei ein Ausgestoßener aus der Welt der Schönheit und des Wissens.
Bei Sonnenaufgang wurde Mwen Maas von einem anderen Hirten abgelöst. Der Afrikaner nahm sich zwei Tage frei und beschloss, in eine kleine Stadt zu wandern, um sich einen Umhang zu besorgen, denn die Nächte in den Bergen begannen kühl zu werden.
Es war ein stiller, drückend heißer Tag, als Mwen Maas das Plateau verließ und in die breite Ebene, ein von bunten Insekten umschwirrtes Meer aus blassvioletten und goldgelben Blumen, hinunterstieg. Leichte Brisen bewegten die Köpfe der Pflanzen, und die Blumen berührten mit ihren Kronen sanft seine nackten Knie. Als Mwen Maas die Mitte einer riesigen Wiese erreicht hatte, blieb er stehen und gab sich dem Genuss der einfachen und fröhlichen Schönheit und dem starken Duft dieses wilden Gartens hin. Versonnen bückte er sich und fuhr mit der Hand über die im Winde wogenden Blütenblätter — es war ihm, als träumte er einen alten Kindheitstraum.
Plötzlich drang ein kaum hörbares klopfendes Geräusch an sein Ohr. Mwen Maas hob den Kopf und sah ein Mädchen durch die hohe Blumenwiese rennen. Sie bog zur Seite ab, und Mwen Maas blickte mit Vergnügen ihrer schlanken Gestalt inmitten des Blumenmeeres hinterher. Ein heftiges Gefühl des Bedauerns ergriff ihn — das hätte Tschara sein können… wenn die Dinge anders gelaufen wären…
Seine Beobachtungsgabe als Wissenschaftler sagte ihm, dass das Mädchen ruhelos war. Sie sah sich des Öfteren um und beschleunigte ohne jeden Grund ihre Schritte, so als hätte sie vor irgendetwas hinter sich Angst. Mwen Maas änderte seine Richtung und ging, jetzt zu voller Größe aufgerichtet, rasch auf das Mädchen zu.
Die Unbekannte blieb stehen. Ein buntes Tuch war eng um ihren Körper gewickelt, der Zipfel ihres roten Rockes war vom Tau feucht. Die dünnen Reifen an ihren nackten Armen klirrten lauter, als sie sich die vom Wind zerzausten dunklen Haare aus dem Gesicht strich. Ihre Augen blickten traurig unter den kurzen, unordentlich in die Stirn und auf die Wangen fallenden Locken hervor. Das Mädchen atmete schwer, wahrscheinlich vom Laufen. Ein paar Schweißtropfen standen in ihrem dunklen, schönen Gesicht. Das Mädchen tat einige unsichere Schritte auf ihn zu.
„Wer sind Sie, und wohin wollen Sie so eilig?“, fragte Mwen Maas. „Brauchen Sie vielleicht Hilfe?“
Das Mädchen musterte ihn eingehend.
„Ich bin Onar aus der fünften Siedlung“, sagte sie hastig und stockend. „Nein, ich brauche keine Hilfe.“
„Das scheint mir aber nicht so! Sie sind müde, und es quält Sie etwas. Wovor haben Sie Angst? Weshalb lehnen Sie meine Hilfe ab?“
Das unbekannte Mädchen hob den Blick, der so tief und klar wie der einer Frau in der Großen Welt war.
„Ich weiß, wer Sie sind. Ein großer Mann, von dort…“, sie zeigte in Richtung Afrika. „Sie sind gutmütig und vertrauensselig.“
„Ich wünschte, auch Sie wären es. Verfolgt Sie jemand?“
„Ja!“, stieß das Mädchen verzweifelt hervor. „Er ist stets hinter mir her…“
„Wer ist er, der sich untersteht, Ihnen Angst zu machen und Sie zu verfolgen?“
Das Mädchen wurde rot und senkte den Blick.
„Ein Mann. Er will, dass ich seine…“
„Aber Sie werden sich doch frei entscheiden können, ob Sie ihn wollen oder nicht? Kann man denn jemanden zur Liebe zwingen? Wenn er kommt, sage ich ihm…“
„Oh, nein! Er ist auch aus der Großen Welt gekommen, aber schon vor langer Zeit, und er war auch ein großer Mann… Doch nicht so wie Sie… Er ist schrecklich!“
Mwen Maas lachte unbekümmert.
„Wohin gehen Sie?“
„In die fünfte Siedlung. Ich war in der Stadt, und auf dem Rückweg begegnete mir…“
Mwen Maas nickte und nahm das Mädchen an der Hand. Sie legte folgsam ihre Finger in seine Hand, und sie schlugen einen Seitenpfad ein, der zur Siedlung führte.
Auf dem Weg erzählte das Mädchen, sich von Zeit zu Zeit besorgt umblickend, dass sie der Mann überallhin verfolge.
Ihre Angst, offen zu sprechen, verwirrte Mwen Maas aufs Höchste. Er konnte sich nicht mit dem Gedanken an Unterdrückung abfinden, auch wenn er wusste, dass sie nur noch selten auf der geordneten Erde vorkam!
„Weshalb unternehmen Ihre Leute nichts dagegen?“, sagte Mwen Maas. „Und weiß denn die Ehren- und Rechtskontrolle nichts davon? Lehrt man euch in der Schule etwa nicht Geschichte, und wisst ihr nicht, wozu die kleinste Gewalttätigkeit führen kann?“
„Doch, wir lernen Geschichte… und wir wissen es…“, antwortete Onar, vor sich hin starrend.
Die blühende Ebene war nun zu Ende, und der Pfad verschwand in einer scharfen Kurve im Gestrüpp. Hinter der Biegung tauchte ein großer, finster dreinblickender Mann auf und versperrte ihnen den Weg. Sein Oberkörper war nackt, und seine athletischen Muskeln zuckten unter den grauen Haaren, die seine Brust bedeckten. Das Mädchen machte sich ruckartig los.
„Ich habe Angst um Sie“, flüsterte es. „Gehen Sie fort, Mensch der Großen Welt…“
„Stehen bleiben!“, dröhnte eine gebieterische Stimme.
In einem solch rauen Ton sprach niemand in der Epoche des Rings. Mwen Maas stellte sich instinktiv schützend vor das Mädchen.
Der große Mann ging auf ihn zu und versuchte, ihn wegzustoßen, aber Mwen Maas stand da wie ein Fels.
Da verabreichte ihm der Unbekannte mit blitzartiger Geschwindigkeit einen Fausthieb ins Gesicht. Mwen Maas schwankte. Noch nie in seinem Leben hatte er so harte Schläge einstecken müssen, deren Absicht es war, starken Schmerz und Betäubung zuzufügen und den Menschen zu demütigen.
In seiner Betäubung hörte Mwen Maas Onar jämmerlich aufschreien. Er stürzte sich auf den Gegner, aber wurde von zwei dröhnenden Hieben zu Boden gestreckt. Onar warf sich auf die Knie, um ihn mit ihrem Körper zu schützen, aber der Gegner packte sie mit einem triumphierenden Schrei. Er drehte ihr die Arme auf den Rücken, und sie krümmte sich und begann, hochrot vor Zorn, zu weinen.
Inzwischen war Mwen Maas jedoch wieder zu sich gekommen. In seiner Jugend, bei der Ableistung seiner Herkulestaten, hatte er heftige Kämpfe mit Feinden, die sich nicht an die menschlichen Regeln hielten, auszufechten gehabt. Er versuchte sich an alles zu erinnern, auch an die Tricks, die er über den Nahkampf mit gefährlichen Tieren gelernt hatte.
Mwen Maas stand langsam auf, warf einen Blick auf das wutverzerrte Gesicht des Gegners, um sich einen Zielpunkt für den vernichtenden Schlag auszusuchen, und wich plötzlich wie vom Blitz getroffen zurück. Er hatte dieses charakteristische Gesicht wiedererkannt, das ihn bei seinen quälenden Gedanken über die Rechtmäßigkeit des tibetischen Experiments verfolgte.
„Bet Lon!“
Dieser ließ das Mädchen los und erstarrte. Eindringlich fixierte er den ihm unbekannten, dunkelhäutigen Mann, aus dessen Gesicht jede Spur von Gutmütigkeit gewichen war.
„Bet Lon, ich habe oft über eine Begegnung mit Ihnen nachgedacht, habe Sie für einen Kameraden im Unglück gehalten“, schrie Mwen Maas. „Nie hätte ich mir vorgestellt, dass sie so stattfindet!“
„Ach, wie denn?“, fragte Bet Lon frech und versuchte die Wut in seinen Augen zu verbergen.
Der Afrikaner machte eine abwehrende Geste.
„Wozu die leeren Worte? In der Großen Welt hatten Sie das nicht nötig, sondern Sie handelten, wenn auch verbrecherisch, im Namen einer großen Idee. Aber in welchem Namen handeln Sie hier und jetzt?“
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