»Beginne mit dem Auftauungsprozeß«, befahl er dem Computer.
Der Computer befolgte jetzt den für die Simulation entworfenen Plan. Er kehrte den Fluß von drei der langen silbrigen, in die Tundra eingebetteten Gefrierstreifen um; anstatt die Wärme zu absorbieren, begannen die Helium-ll-Diffusionszellen der Streifen die gespeicherte Energie abzustrahlen. Zur gleichen Zeit legte der Computer fünf andere Streifen still, so daß sie weder Energie absorbierten noch freigaben, und programmierte sieben andere Streifen, alle Energie, die sie jetzt erreichte, zu reflektieren und die bisher gespeicherte Energie zurückzuhalten. Aufgrund dieser Veränderungen sollte die Tundra unter dem Turm einseitig auftauen, so daß dieser, wenn die Fundamentcaissons ihren Halt verloren, ohne Schaden anzurichten in die evakuierte Zone fallen mußte. Der Vorgang würde sich nur langsam vollziehen.
Watchman beobachtete, wie die Temperatur des Bodens stetig dem Taupunkt entgegenstieg. Der Turm stand noch fest auf seinem Fundament. Aber die Wirkung der Permafrostanlage nahm ab. Molekül für Molekül wurde Eis zu Wasser, eisenharter Torf verwandelte sich in Schlamm. In einer Art von Ekstase registrierte Watchman die eingehenden Daten zunehmender Instabilität. Neigte sich der Turm schon? Ja. Nur wenig, aber er bewegte sich bereits deutlich außerhalb des zulässigen für Windeinwirkung vorgesehenen Parameters. Er zerrte an seiner Basis, neigte sich einen Millimeter nach dieser Seite, einen Millimeter nach der anderen. Wieviel wog es, dieses mehr als 1200 Meter hohe Bauwerk aus Glasblöcken? Was für ein Geräusch würde es machen, wenn es stürzte? In wie viele Stücke würde es zersplittern? Was wird Krug sagen? Was wird Krug sagen? Was wird Krug sagen?
Ja, jetzt neigte sich der Turm deutlich nach der gewünschten Seite.
Watchman entdeckte eine Veränderung der Farbe an der Oberfläche der Tundra. Er lächelte. Sein Pulsschlag beschleunigte sich, das Blut schoß in seine Wangen und seine Lenden. Er geriet in einen Zustand sexueller Erregung, hatte große Lust, auf den Trümmern des Turms mit Lilith den Geschlechtsakt zu vollziehen, wenn das Zerstörungswerk vorbei war. Da! Da! Jetzt kippt er wirklich! Er neigt sich zur Seite! Was geschah dort an den Wurzeln des Turms? Wehrten sich die Caissons, aus der Erde herausgerissen zu werden, die sie nicht länger halten wollte? Wie weich war der Schlamm unter der Oberfläche? Würde er kochen und brodeln? Wie lange würde es noch dauern, bis der Turm fiel? Was wird Krug sagen? Was wird Krug sagen?
»Thor«, murmelte Lilith, »kannst du für einen Augenblick hinauskommen?«
Sie hatte sich ebenfalls an den Computer angeschlossen. »Warum?« fragte er.
»Komm mit hinaus. Schalte ab.«
Widerstrebend unterbrach er den Kontakt. »Was ist los?« fragte er, schüttelte die Bilder der Zerstörung ab, die seinen Geist beherrschten.
Lilith zeigte nach draußen. »Etwas geht schief. Fileclerk ist da. Ich glaube, er hält eine Rede. Was soll ich tun?«
Watchman schaute hinaus und erblickte den AGP-Führer in der Nähe der Transmatanlage, umgeben von einem Haufen Betas. Fileclerk schwenkte die Arme, zeigte auf den Turm, schrie. Jetzt begann er auf das Kontrollzentrum zuzugehen.
»Das werde ich erledigen«, sagte Watchman.
Er ging hinaus. Fileclerk und Watchman trafen sich in der Mitte zwischen den Transmatkabinen und dem Kontrollzentrum. Der Alpha erschien sehr erregt. Er sagte sofort: »Was geschieht mit dem Turm, Alpha Watchman?«
»Nichts, das Sie etwas anginge.«
»Der Turm untersteht der Autorität des Eigentumsschutzes von Buenos Aires«, erklärte Fileclerk. »Unsere Sensoren haben berichtet, daß der Bau über die zulässige Toleranz hinaus schwankt. Meine Vorgesetzten haben mich hierher geschickt, damit ich eine Untersuchung durchführe.«
»Eure Sensoren haben vollkommen recht«, sagte Watchman. »Der Turm schwankt. Die Gefrieranlage hat versagt. Der Permafrost taut auf, und wir nehmen an, daß der Turm in Kürze fallen wird.«
»Was haben Sie getan, um den Fehler zu beheben?«
»Sie verstehen nicht«, sagte Watchman. »Die Gefrierstreifen wurden auf mein Kommando abgeschaltet.«
»Und der Turm wird fallen?«
»Der Turm wird fallen.«
Bestürzt sagte Fileclerk: »Welcher Wahnsinn hat die Welt befallen? Was soll dieser Vandalismus?«
»Der Segen Krugs ist widerrufen worden. Seine Kreaturen haben ihre Unabhängigkeit erklärt.«
»Mit einer Orgie der Zerstörung?«
»Mit einem Programm geplanter Abschaffung der Sklaverei«, sagte Watchman.
Fileclerk schüttelte den Kopf. »Aber doch nicht so. Nicht so! Seid ihr denn alle wahnsinnig geworden? Wir waren im Begriff, die Menschen für unsere Sache zu gewinnen. Jetzt zerstört Ihr alles. Ihr zettelt einen Krieg an zwischen Androiden und Menschen…«
»Den wir gewinnen werden«, sagte Watchman. »Wir übertreffen sie an Zahl. Wir sind stärker. Wir kontrollieren die Waffen und haben die Instrumente der Kommunikation und des Verkehrs in der Hand.«
»Aber warum? Warum?«
»Es gibt keine andere Wahl. Alpha Fileclerk. Wir hatten unser Vertrauen in Krug gesetzt, und Krug hat unsere Hoffnungen enttäuscht. Jetzt schlagen wir zurück, gegen jene, die uns verspottet haben. Gegen jene, die uns ausgebeutet haben. Gegen ihn, der uns geschaffen hat. Und wir treffen ihn da, wo er am verwundbarsten ist, indem wir den Turm zu Fall bringen.«
Fileclerk schaute an Watchman vorbei zum Turm. Auch Watchman drehte sich um. Das Schwanken war jetzt mit dem bloßen Auge wahrnehmbar.
Heiser sagte Fileclerk: »Es ist noch nicht zu spät, die Gefrieranlage wieder einzuschalten. Wollen Sie nicht doch noch Vernunft annehmen? Es bestand keine Notwendigkeit für diese Revolte. Wir hätten uns mit ihnen geeinigt. Watchman, Watchman, wie kann jemand mit Ihrer Intelligenz ein solcher Fanatiker sein? Wollen Sie die Welt vernichten, weil euer Gott, den ihr euch selbst zurechtgebastelt hattet, euch jetzt im Stich läßt?«
»Ich finde, es ist Zeit, daß Sie hier verschwinden«, sagte Watchman.
»Nein. Die Überwachung des Turmes ist meine Verantwortlichkeit. Wir haben einen Kontrakt.« Fileclerk wandte sich an die umstehenden Androiden. »Freunde!« rief er. »Alpha Watchman ist verrückt geworden! Er zerstört den Turm! Ich bitte euch um eure Hilfe! Ergreift ihn, haltet ihn zurück, während ich in das Kontrollzentrum gehe und die Gefrieranlage wieder in Ordnung bringe! Haltet ihn zurück, oder der Turm wird stürzen!«
Keiner der Androiden rührte sich.
Watchman sagte: »Führt ihn weg, Freunde.«
Die Androiden traten auf Fileclerk zu, umringten ihn. »Nein«, brüllte Fileclerk. »Hört auf mich! Das ist Wahnsinn! Das ist wider die Vernunft! Das ist…«
Ein gedämpfter Laut stieg aus der Mitte der Gruppe. Watchman lächelte und wandte sich wieder dem Kontrollzentrum zu. Lilith sagte: »Was werden sie mit ihm machen?«
»Ich habe keine Ahnung. Ihn töten, vielleicht. Die Stimme der Vernunft wird immer erstickt in Zeiten wie diesen«, sagte Watchman. Er richtete seinen Blick auf den Turm. Er neigte sich schon deutlich nach Osten. Wolken von Dampf entstiegen der Tundra. Er sah Blasen im Schlamm auf der Seite, wo die Streifen den Boden erhitzten. Eine Nebelbank bildete sich dicht über dem Boden, wo die arktische Kälte mit der aus der Tundra aufsteigenden Wärme zusammenstieß. Watchman hörte saugende Geräusche in der Erde und seltsame schmatzende Laute: Schlamm, der sich von Schlamm löste. Wie groß ist die Abweichung des Turms von der Senkrechten, fragte er sich. Zwei Grad, drei? Wie weit muß er sich neigen, bis der Schwerpunkt sich so weit verschoben hat, daß das ganze Ding sich selbst aus dem Boden reißt?
»Schau«, sagte Lilith plötzlich.
Eine andre Gestalt kam aus dem Transmat gestolpert: Manuel Krug. Er trug das Kostüm eines Alphas – meine Kleider, erkannte Watchman – doch diese Kleider waren zerrissen und blutbefleckt, und die durch die Risse sichtbare Haut zeigte tiefe Schnitte. Manuel schien die Kälte nicht zu spüren. Er rannte auf sie zu mit weit aufgerissenen Augen, von Entsetzen geschüttelt.
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