Der Erste Bruder, wie immer von allem Neuen entzückt, drängte sie dazu, mehr zu tun. Trotzdem fand die Frau, dass sie in gewissem Maße an der Ordnung des Zweiten Bruders Gefallen gefunden hatte. Sie baute die Vorschläge des Ersten Bruders ein, aber langsam und zielgerichtet. Sie achtete darauf, wie jede winzige Veränderung weitere bewirken konnte und manchmal Wachstum auf unerwartete, wunderbare Weise hervorrief.
Manchmal zerstörten die Veränderungen alles und zwangen sie dazu, von vorne anzufangen. Sie trauerte über den Verlust ihrer
Spielzeuge, ihrer Schätze, aber sie begann den Vorgang immer von Neuem. Wie die Finsternis des Ersten Bruders und das Licht des Zweiten Bruders, war dieses Talent etwas, das nur sie beherrschte. Der Drang, dies zu tun, war so wichtig für sie, wie zu atmen — genauso ein Teil von ihr wie ihre Seele.
Der Zweite Bruder fragte sie danach, nachdem er seine Verärgerung über ihr Flickwerk überwunden hatte. »Man nennt es Leben«, sagte sie, weil ihr der Klang des Wortes gefiel. Er lächelte zufrieden, denn ein Ding zu benennen heißt, ihm Ordnung und Sinn zu verleihen. Dann verstand er, dass sie das aus Respekt vor ihm getan hatte.
Aber sie ging zu dem Ersten Bruder, als sie Hilfe mit ihrem anspruchsvollsten Experiment brauchte. Der Erste Bruder war, wie sie erwartet hatte, begierig darauf, zu helfen — aber zu ihrer Überraschung gab es auch eine nüchterne Warnung. »Wenn das gelingt, wird es vieles verändern. Das ist dir bewusst, nicht wahr? Nichts in unserem Leben wird jemals wieder wie vorher sein.« Der Erste Bruder machte eine Pause, weil er sehen wollte, ob sie ihn verstanden hatte, und plötzlich war es ihr klar. Der Zweite Bruder mochte keine Veränderung.
»Nichts kann immer gleich bleiben«, sagte sie. »Wir wurden nicht für den Stillstand erschaffen. Sogar er muss das erkennen.«
Der Erste Bruder seufzte nur und sagte nichts mehr.
Das Experiment gelang. Das neue Leben quäkte, zitterte und äußerte vehemente Proteste, aber es war wunderbar in seiner Unfertigkeit, und die Frau wusste, dass das, was sie begonnen hatte, gut und richtig war. Sie nannte das Wesen »Si’eh«, weil das der Klang des Windes war. Und sie nannte seine Art Wesen »Kind«, was bedeutete, dass es die Fähigkeit hatte, heranzuwachsen und so zu werden, wie sie waren — und dass sie noch mehr davon erschaffen konnten.
Wie immer im Leben löste diese winzige Veränderung viele, viele andere aus. Die tiefgreifendste davon war eine, die auch sie nicht vorhergesehen hatte: Sie wurden eine Familie. Eine Weile waren alle damit glücklich — sogar der Zweite Bruder.
Aber nicht alle Familien bleiben bestehen.
Einst war da Liebe.
Mehr als Liebe. Und jetzt ist da mehr als Hass. Sterbliche haben keine Worte für das, was wir Götter fühlen. Nicht einmal Götter haben dafür Worte.
Aber so eine Liebe verschwindet nicht einfach, oder? Egal, wie stark der Hass ist, es gibt darunter immer noch ein wenig Liebe.
Ja. Furchtbar, nicht wahr?
Wenn der Körper angegriffen wird, reagiert er oft mit Fieber. Angriffe auf den Geist können denselben Effekt haben. Deshalb lag ich zitternd und besinnungslos fast drei Tage darnieder.
Einige Momente dieser Zeit tauchen wie Stilleben in meinem Gedächtnis auf — einige in Farbe und andere in Grauschattierungen. Eine einsame Gestalt steht an meinem Schlafzimmerfenster, groß und angespannt, mit unmenschlicher Wachsamkeit. Zhak- karn. Nach einem Lidschlag erscheint dasselbe Bild als Negativ: dieselbe Gestalt, umgeben von leuchtend weißen Wänden, und vor dem Fenster steht das schwarze Rechteck der Nacht. Nach einem weiteren Lidschlag ist da ein anderes Bild: Die alte Frau aus der Bibliothek beugt sich über mich und schaut mir vorsichtig in die Augen. Zhakkarn steht im Hintergrund und schaut zu.
»Wenn sie stirbt ...«
»Dann fangen wir von vorne an. Was sind schon ein paar Jahrzehnte mehr?«
»Nahadoth wird nicht erfreut sein.«
Ein raues, bedauerndes Lachen. »Du hast eine großartige Gabe für Untertreibungen, Schwester.«
»Si’eh auch,nicht.«
»Da ist Si’eh selbst schuld. Ich habe den kleinen Narren gewarnt, sich nicht zu sehr an sie zu hängen.«
Vorwurfsvolles Schweigen für eine Weile. »Hoffnung ist nichts Närrisches.«
Die Antwort ist ein Schweigen, das entfernt schamhaft wirkt.
Eins der Bilder in meinem Kopf unterscheidet sich von den anderen. Dieses ist wieder dunkel, auch die Wände sind dunkel geworden, und zu dem Bild gehört ein Gefühl. Ich nehme unheilvolles Gewicht und Druck wahr sowie eine sich anbahnende Wut. Zhakkarn steht diesmal nicht am Fenster, sondern in der Nähe einer Wand. Ihr Kopf ist respektvoll gebeugt. Im Vordergrund steht Nahadoth und starrt schweigend auf mich hinunter. Wieder einmal ist sein Gesicht verändert, und ich verstehe jetzt, warum Itempas ihn nur bis zu einem gewissen Grad kontrollieren kann. Er muss sich verändern, er ist Veränderung. Er könnte mich seine Wut, die die Luft schwer macht und meine Haut zum Jucken bringt, sehen lassen. Stattdessen ist er ausdruckslos. Seine Haut ist zu einem warmen Braun geworden, seine Augen sind viele Abstufungen von Schwarz, und seine Lippen rufen in mir die Sehnsucht nach weichen, reifen Früchten hervor. Das perfekte Gesicht, um einsame Darr-Mädchen zu verführen — obwohl das noch besser gelingt, wenn die Augen Wärme ausstrahlen.
Ich kann mich nicht erinnern, dass er etwas sagt. Als mein Fieber endlich sinkt und ich aufwache, ist er fort und das Gewicht seiner Wut auch — obwohl es nie völlig verschwindet... Auch das kann Bright Itempas nicht kontrollieren.
Morgendämmerung.
Ich setzte mich auf, fühlte mich schwer und hatte einen dicken Kopf. Zhakkarn stand immer noch am Fenster und warf mir über die Schulter hinweg einen Blick zu.
»Ihr seid wach.« Ich drehte mich um und sah Si’eh, der sich in einem Sessel neben dem Bett zusammengerollt hatte. Er faltete sich förmlich auseinander, kam auf mich zu und berührte meine Stirn. »Das Fieber ist gesunken. Wie fühlst du dich?«
Ich antwortete mit dem ersten klaren Gedanken, den ich fassen konnte. »Was bin ich?«
Er senkte seinen Blick. »Das ... darf ich dir nicht sagen.«
Ich schob die Decken beiseite und stand auf. Einen Moment lang war mir schwindlig, weil das Blut erst in meinen Kopf hinein- und dann wieder herausströmte, aber es ging vorbei und ich stolperte ins Badezimmer.
»Ich möchte, dass ihr beide verschwunden seid, wenn ich hier wieder herauskomme«, sagte ich über meine Schulter hinweg.
Weder Si’eh noch Zhakkarn antworteten. Im Badezimmer beugte ich mich über das Waschbecken und überlegte unter Schmerzen einige Momente lang, ob ich mich übergeben musste. Die Leere in meinem Bauch zog dann aber einen Schlussstrich unter die Angelegenheit. Meine Hände zitterten, während ich badete, mich abtrocknete und Wasser direkt aus dem Hahn trank. Ich verließ das Badezimmer, und es überraschte mich gar nicht, die beiden Enefadeh immer noch vorzufinden. Si’eh hatte seine Knie angezogen und saß auf meinem Bettrand. Er sah jung und beunruhigt aus. Zhakkarn hatte sich nicht vom Fenster wegbewegt.
»Die Worte müssen als Befehl formuliert werden«, sagte sie, »wenn du wirklich wünschst, dass wir gehen.«
»Mir ist egal, was ihr tut.« Ich fand Unterwäsche und zog sie an. Aus dem Schrank nahm ich das Erste, was ich sah — ein elegantes Amn-Etuikleid, dessen Muster meine nicht vorhandenen Kurven kaschieren sollten. Ich wählte Stiefel, die überhaupt nicht dazu passten, und setzte mich hin, um sie an meine Füße zu bringen.
»Wohin gehst du?«, fragte Si’eh. Er berührte ängstlich meinen Arm. Ich schüttelte meinen Arm, als ob ich ein Insekt verscheuchen wollte, und er zog seine Hand zurück. »Das weißt du selber nicht, oder? Yeine ...«
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