»Zurück zur Bibliothek«, sagte ich. Ich hatte das nur so gesagt, denn er hatte recht — ich hatte kein Ziel im Sinn außer w eg.
»Yeine, ich weiß, dass du aufgebracht bist ...«
»Was bin ich?« Ich stand da mit einem angezogenen Stiefel und ging auf ihn los. Er wich zurück, wahrscheinlich, weil ich mich hinuntergebeugt hatte, um ihm die Worte ins Gesicht zu schreien. »Was? Was? Was bin ich, gottverdammt? Was ...«
»Dein Körper ist menschlich«, unterbrach Zhakkarn. Diesmal wich ich zurück. Sie stand in der Nähe des Betts und sah mich wie immer unbeteiligt an, obwohl in der Art, wie sie hinter Si’eh stand, etwas Beschützendes lag. »Dein Geist ist menschlich. Die Seele ist die einzige Veränderung.«
»Was bedeutet das?«
»Es bedeutet, dass du dieselbe Person bist, die du immer warst.« Si’eh sah sowohl kleinlaut als auch missmutig aus. »Eine normale, sterbliche Frau.«
»Ich sehe aus wie sie.«
Zhakkarn nickte. Sie hätte auch übers Wetter reden können. »Die Anwesenheit von Enefas Seele in deinem Körper hat einigen Einfluss.«
Ich zitterte und fühlte mich wieder krank. In mir war etwas, das nicht ich war. Ich rieb meine Arme und widerstand dem Drang, meine Fingernägel zu benutzen. »Könnt ihr sie entfernen?«
Zhakkarn blinzelte, und ich spürte, dass ich sie zum ersten Mal überrascht hatte. »Ja. Aber dein Körper hat sich an zwei Seelen gewöhnt. Möglicherweise würde er es nicht überleben, nur eine zu haben.«
Zwei Seelen. Irgendwie war das besser. Es war kein leeres Ding, das nur von einer fremden Macht zum Leben erweckt wurde. Immerhin war etwas in mir noch ich. »Könnt ihr es versuchen?«
»Yeine ...« Si’eh wollte meine Hand nehmen, aber er schien es sich anders zu überlegen, als ich zurückwich. »Sogar wir wissen nicht, was geschehen würde, wenn wir die Seele entfernen. Zuerst dachten wir, dass sie deine einfach verschlingen wird, aber das ist offensichtlich nicht geschehen.«
Ich muss verwirrt ausgesehen haben.
»Du bist immer noch bei Verstand«, sagte Zhakkarn.
Etwas in mir frisst mich auf. Ich ließ mich auf das Bett fallen und federte ein paarmal sinnlos auf und nieder. Sobald das Federn aufhörte, stand ich auf und humpelte mit nur einem Stiefel auf und ab. Ich konnte nicht stillhalten. Ich rieb mir die Schläfen, zupfte an meinen Haaren und fragte mich, wie lange ich noch bei Verstand bleiben würde mit diesen Gedanken im Kopf.
»Und du bist immer noch du«, sagte Si’eh eindringlich und lief mir beinahe hinterher. »Du bist die Tochter, die Kinneth gehabt hätte. Du hast nicht Enefas Erinnerungen oder ihre Persönlichkeit. Du denkst nicht wie sie. Das bedeutet, dass du stark bist, Yeine. Das kommt von dir, nicht von ihr.«
Ich lachte hysterisch, es klang wie Weinen. »Woher willst du das wissen?«
Er blieb stehen, und seine Augen hatten einen sanften, trauernden Ausdruck. »Wenn du sie wärest«, sagte er, »würdest du mich lieben.«
Ich blieb auch stehen und hielt den Atem an.
»Und mich«, sagte Zhakkarn. »Und Kurue. Enefa liebte alle ihre Kinder, sogar die, die sie irgendwann verraten haben.«
Ich liebte Zhakkarn oder Kurue nicht. Unwirsch stieß ich den angehaltenen Atem aus.
Aber ich zitterte wieder, zum Teil vor Hunger. Si’ehs Hand streifte schüchtern meine. Als ich mich diesmal nicht entzog, seufzte er und nahm meine Hand. Dann zog er mich zum Bett zurück, damit ich mich hinsetzte.
»Du hättest durch dein ganzes Leben gehen können, ohne es zu wissen«, sagte er, hob die Hand und streichelte meine Haare. »Du wärest älter geworden, hättest einen Sterblichen geliebt, vielleicht sterbliche Kinder bekommen und sie auch geliebt und wärst dann im Schlaf als alte, zahnlose Frau gestorben. Das war es, was wir für dich wollten, Yeine. Das hättest du gehabt, wenn Dekarta dich nicht hierher geholt hätte. Das hat uns in Zugzwang gebracht.«
Ich drehte mich zu ihm um. Auf diese Entfernung war der Drang zu stark, um ihm zu widerstehen. Ich legte meine Hand an seine Wange, lehnte mich vor und küsste ihn auf die Stirn. Er zuckte überrascht zusammen, lächelte dann aber schüchtern, und seine Wange fühlte sich warm in meiner Handfläche an. Ich lächelte zurück. Viraine hatte recht gehabt — es war so leicht, ihn zu lieben.
»Erzähl mir alles«, flüsterte ich.
Er fuhr zusammen, als ob der Blitz ihn getroffen hätte. Vielleicht hatte die Magie, die ihn dazu verpflichtete, den Befehlen der Arameri zu gehorchen, eine körperliche Auswirkung, vielleicht bereitete sie sogar Schmerzen. Auf jeden Fall war in seinen Augen eine andere Art Schmerz zu sehen, als ihm klar wurde, dass ich den Befehl mit Absicht gegeben hatte.
Aber ich war nicht präzise gewesen. Er hätte mir alles erzählen können, die Geschichte des Universums vom Anbeginn der Zeit, die Zahl der Farben des Regenbogens, die Worte, die sterbliches Fleisch wie einen Stein zerschmettern konnten. So viel Freiheit hatte ich ihm gelassen.
Stattdessen erzählte er mir die Wahrheit.
Halt. Etwas geschah noch davor. Ich wollte die Dinge nicht so durcheinanderbringen, tut mir leid, aber es ist so schwer, zu denken. Es war an dem Morgen, nachdem ich den silbernen Aprikosenkern gefunden hatte, also vor drei Tagen. Oder nicht? Bevor ich zu Viraine ging, genau. Ich stand an dem Morgen auf und machte mich für den Salon fertig. Dann fand ich ...
... einen Diener, der auf mich wartete, als ich die Türe öffnete.
»Eine Nachricht für Euch, Lady«, sagte er und sah ungeheuer erleichtert aus. Ich wusste nicht, wie lange er dort gestanden hatte. Diener in Elysium klopften nur, wenn es sehr dringend war. »Ja?«
»Lord Dekarta fühlt sich nicht wohl«, sagte er. »Ihr werdet heute ohne ihn an der Konsortiumssitzung teilnehmen, wenn Ihr Euch entschließen solltet, hinzugehen.«
T’vril hatte durchblicken lassen, dass Dekartas Gesundheitszustand eine Rolle bei seiner Teilnahme an den Sitzungen spielte, obwohl es mich überraschte, das jetzt zu hören: Am Tag zuvor schien alles mit ihm in Ordnung gewesen zu sein. Außerdem überraschte es mich, dass er es für nötig hielt, mich zu informieren. Aber ich hatte den zweiten Teil durchaus gehört — eine unterschwellige Rüge dafür, dass ich am Tag vorher geschwänzt hatte. Ich unterdrückte meinen Arger und sagte: »Danke. Bitte richtet ihm meine Wünsche für eine baldige Genesung aus.«
»Ja, Lady.« Der Diener verbeugte sich und ging.
Also ging ich zu dem Vollblutportal und ließ mich zum Salon transportieren. Wie erwartet war Relad nicht anwesend. Wie befürchtet war Scimina es durchaus. Wieder einmal lächelte sie mir zu, und ich nickte nur zurück. Dann saßen wir für zwei Stunden schweigend nebeneinander.
Die Sitzung war an diesem Tag kürzer als üblich, weil es nur einen Tagesordnungspunkt gab: die Annektierung der kleinen Inselnation Irt durch ein größeres Königreich namens Uthr. Der Archerin, früherer Regent von Irt — ein untersetzter, rothaariger Mann, der mich entfernt an T’vril erinnerte —, war gekommen, um Einspruch einzulegen. Der König von Uthr, der scheinbar unbeeindruckt von dem Angriff auf seine Autorität war, hatte nur einen Stellvertreter in seinem Namen geschickt: einen Jungen, der nicht viel älter aussah als Si’eh und ebenfalls rote Haare hatte. Sowohl die Irti als auch die Uthre waren Sprösslinge der Ken. Diese Tatsache hatte allerdings nichts dazu beigetragen, eine freundschaftliche Beziehung zwischen ihnen zu fördern.
Im Wesentlichen richtete sich der Einspruch des Archerin dagegen, dass Uthr keinen Antrag gestellt hatte, einen Krieg beginnen zu dürfen. Bright Itempas verabscheute das Chaos eines Krieges, deswegen wurde Derartiges von den Arameri strikt kontrolliert. Da kein Antrag vorlag, waren die Irti sich der aggressiven Absichten ihres Nachbarn nicht bewusst gewesen und hatten keine Zeit gehabt, sich zu bewaffnen. Außerdem hatten sie kein Recht, sich auf eine Weise zu verteidigen, die Todesfälle verursachen konnte. Ohne den Antrag würden alle feindlichen Soldaten, die zu Tode kamen, als Mordfälle angesehen und als solche von den Gesetzeshütern des Itempas-Ordens verfolgt und geahndet werden. Natürlich konnten die Uthre ebenfalls nicht legal töten — und das hatten sie auch nicht getan. Sie waren einfach in überwältigender Zahl in die Hauptstadt von Irt einmarschiert, hatten die Verteidiger im wahrsten Sinne des Wortes in die Knie gezwungen und den Archerin hinausgeworfen.
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