Sie führte ihn an ein ringförmiges Geländer. Verschiedene Personen lehnten darüber und unterhielten sich. Sie waren mehr oder weniger nackt. Alle trugen Sandalen und die meisten eine Hüfttasche mit Schultergurt. Einige hatten kurze Hosen an. Ein Mann kratzte eine grüne Paste aus einem Behälter und aß davon.
Als sie an ihm vorbeikamen, kräuselte der Mann von der Erde die Nase und sagte: »Das Zahnproblem ist wohl sehr schlimm hier auf dem Mond.«
»Gut steht es nicht damit«, erwiderte Selene. »Wenn es geht, lassen wir uns die Zähne ziehen.«
»Alle?«
»Oft nicht alle. Meistens bleiben die Vorder- und Augenzähne stehen — aus kosmetischen Gründen und weil man damit manchmal noch ganz schön beißen kann. Sie lassen sich auch leicht reinigen. Aber warum sollten die nutzlosen Backenzähne stehenbleiben? Die sind doch nur ein Überbleibsel unserer Erdvergangenheit.«
»Gibt es in dieser Hinsicht eine Fortentwicklung?«
»Nein«, erwiderte sie gepreßt. »Die genetische Formung ist ja verboten. Die Erde besteht darauf.«
Sie beugte sich über das Geländer. »Das hier wird Mondwiese genannt«, sagte sie.
Der Mann von der Erde schaute hinab. Vor sich sah er eine große zylindrische Öffnung mit glatten rosafarbenen Wänden, an denen in anscheinend zufälliger Anordnung Metallsprossen befestigt waren. Hier und dort ragte ein solcher Griff weiter in den Tunnel hinein, manchmal durchschnitt das Griffeisen ihn völlig. Die ganze Anlage war hundert bis hundertundfünfzig Meter lang und etwa fünfzehn Meter breit.
Niemand schien sich sonderlich für die Spielstätte zu interessieren — ebensowenig wie für den Fremden. Im Vorbeigehen hatte ihn manch gleichgültiger Blick gestreift, seinen bekleideten Zustand abwägend, doch alle hatten sich wieder abgewandt. Manche gaben Selene noch ein Zeichen, ehe sie sich umdrehten, doch alle kehrten ihm den Rücken. Das Desinteresse der Lunarier, so indirekt es bekundet wurde, hätte nicht deutlicher zum Ausdruck kommen können.
Der Mann von der Erde betrachtete die zylindrische Öffnung. Ganz unten waren schmale Gestalten zu sehen, von der Perspektive verzeichnet. Einige trugen Fetzen aus rotem Stoff, andere aus blauem Material. Zwei Mannschaften, überlegte er. Offensichtlich erfüllte die spärliche Kleidung eine schützende Funktion, da die Gestalten Handschuhe und Sandalen trugen und Schutzbänder um Knie und Ellenbogen gewickelt hatten. Einige trugen auch schmale Bänder um die Hüften, andere um die Brust.
»Oh«, sagte er leise. »Männer und Frauen.«
»Richtig!« erwiderte Selene. »Beide Geschlechter machen hier gleichberechtigt mit, aber man versucht natürlich das unkontrollierte Ausschwingen von Körperteilen zu vermeiden, die den gelenkten Fall stören könnten. Der geschlechtliche Unterschied bringt auch einen Unterschied in der Schmerzanfälligkeit. Schamhaftigkeit ist es jedenfalls nicht.«
»Ich glaube, ich habe darüber gelesen«, bemerkte der Mann.
»Das kann schon sein«, meinte Selene gleichgültig. »Es scheint aber nicht viel nach draußen zu dringen. Nicht daß wir etwas dagegen haben, aber die terrestrische Regierung beschränkt die Nachrichten vom Mond gern auf ein Minimum.«
»Warum das, Selene?«
»Sie sind Erdenmensch — sagen Sie es mir… wir haben hier das Gefühl, daß wir die Erde in Verlegenheit setzen. Oder wenigstens die irdische Regierung.«
Zu beiden Seiten des Zylinders begannen nun mit großer Geschwindigkeit zwei Gestalten aufzusteigen; zugleich war leises Trommeln zu hören. Zuerst schienen die beiden Sprosse um Sprosse wie an einer Leiter heraufzuklettern, doch ihre Geschwindigkeit nahm immer mehr zu, und als sie etwa die halbe Entfernung zurückgelegt hatten, schlugen sie nur noch im Vorbeigehen mit lauten, klatschenden Geräuschen auf die Griffe.
»So anmutig könnte das niemand auf der Erde«, sagte der Mann bewundernd. »Man könnte es überhaupt nicht«, fügte er hinzu.
»Es geht nicht nur um die Ausnutzung der niedrigen Schwerkraft«, erwiderte Selene. »Versuchen Sie’s ruhig mal, wenn Sie das meinen. Man braucht ein langes Training.«
Die Kämpfer erreichten das Geländer und schwangen sich in den Handstand, vollführten dann gleichzeitig einen Salto und begannen wieder zu fallen.
»Sie können sich ja ganz schnell bewegen, wenn sie wollen«, sagte der Mann von der Erde.
»Hmm. Wenn sich Erdenmenschen — ich meine jene, die noch nicht hier oben gewesen sind — die Fortbewegung auf dem Mond vorstellen, denken sie bestimmt an die freie Mondlandschaft und an Raumanzüge. Da geht es natürlich oft langsam zu. Die Masse, durch den Raumanzug angewachsen, ergibt eine große Trägheit, die sich bei der kleinen Schwerkraft nur schwer überwinden läßt.«
»Stimmt. Ich habe die klassischen Filmaufnahmen von den ersten Astronauten gesehen, die alle Schüler vorgeführt bekommen; ihre Bewegungen sind fast wie unter Wasser. Dieser Eindruck verblaßt nicht so schnell, auch wenn man es dann besser wissen müßte.«
»Sie wären überrascht, wenn Sie wüßten, wie schnell wir heutzutage auch mit dem Raumanzug vorwärtskommen«, sagte Selene. »Und hier unter der Oberfläche, ohne Raumanzüge, sind wir so schnell wie auf der Erde. Die niedrigere Schwerkraft wird durch richtigen Muskeleinsatz wieder wettgemacht.«
»Aber sie können auch nach Belieben langsam sein.« Der Mann von der Erde beobachtete die Akrobaten. Sie waren mit großem Tempo heraufgekommen und sanken nun absichtlich langsam wieder ab. Sie schwebten hinab und klatschten dabei gegen die Griffe, um ihren Fall weiter abzubremsen. Als sie den Boden erreichten, wurden sie von zwei anderen abgelöst. Und dann kamen wieder zwei. Abwechselnd von jedem Team ein Paar, so wetteiferten die Gruppen in ihrer Virtuosität.
Jedes Paar vollführte synchrone Bewegungen, die von Paar zu Paar in Anstieg und Fall komplizierter wurden. Ein Paar stieß sich sogar gleichzeitig ab, durchquerte den Tunnel in einer flachen Parabel und erreichte den Griff, den der andere soeben verlassen hatte. Dabei glitten die beiden in der Mitte aneinander vorbei, ohne sich zu berühren. Die Einlage wurde mit lautem Beifall quittiert.
»Vermutlich fehlt mir die Erfahrung, die Schwierigkeit dieser Kunst zu ermessen. Sind das alles eingeborene Lunarier?« fragte der Mann von der Erde.
»Das müssen sie schon sein«, antwortete Selene. »Die Turnhalle steht zwar allen Lunarbürgern zur Verfügung, und einige Immigranten machen sich auch ganz gut, aber bei dieser Virtuosität kann man davon ausgehen, daß die Teilnehmer auf dem Mond gezeugt und geboren sind. Sie haben die richtige Ausstattung dafür — mehr als ein Erdgeborener — und außerdem das richtige Kindheitstraining. Die meisten Teilnehmer sind unter achtzehn.«
»Es scheint nicht gerade ungefährlich zu sein — trotz der Mondschwerkraft.«
»Ab und zu gibt es Knochenbrüche. Ein Todesfall ist wohl noch nicht vorgekommen, aber ich erinnere mich, daß sich jemand mal das Rückgrat brach und hinterher gelähmt war. Ein schrecklicher Unfall; ich war auch noch dabei… Oh, schauen Sie, jetzt kommen die Impros.«
»Die was?«
»Die Improvisationen. Bisher waren die Übungen vorgeschrieben. Die Aufstiege erfolgten nach einem festen Schema.«
Der Trommelrhythmus schien jetzt leiser zu werden, während ein Mann emporstieg und sich plötzlich ins Freie stieß. Mit einer Hand fing er sich an einer Querstange, kreiste einmal darum und ließ los.
Der Mann von der Erde ließ sich keine Bewegung entgehen. »Verblüffend«, sagte er. »Er schwingt sich wie ein Gibbon um die Stangen.«
»Wie ein was?«
»Gibbon. Menschenaffe — der einzige Menschenaffe, der noch in freier Wildbahn existiert. Sie…« Er bemerkte Selenes Gesichtsausdruck und sagte: »Das sollte keine Beleidigung sein, Selene; Menschenaffen sind anmutige Tiere.«
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