»Das ist wohl richtig«, sagte der Mann seufzend. »Wenn Sie ein richtiges Steak äßen, kämen Ihnen wahrscheinlich das Fett und die Sehnen wieder hoch.«
»Wir könnten in die Außenbezirke gehen, wo die neuen Korridore in den Fels getrieben werden. Aber dazu brauchten Sie einen besonderen Schutzanzug. Dann sind da die Fabriken…«
»Entscheiden Sie, Selene.«
»Das tue ich gern, wenn Sie mir mal eine Frage beantworten. Aber ehrlich.«
»Das kann ich nicht versprechen, ohne die Frage zu kennen.«
»Ich sagte vorhin, daß Erdchen, die die anderen Erdchen nicht mögen, eher auf dem Mond bleiben als andere. Sie haben mir da nicht widersprochen. Wollen Sie auf dem Mond bleiben?«
Der Mann von der Erde starrte auf die Spitzen seiner unförmigen Stiefel. »Selene, ich hatte Schwierigkeiten, überhaupt ein Visum für den Mond zu bekommen. Man meinte, daß ich vielleicht zu alt wäre für die Reise, daß ich überhaupt nicht zurückkehren könnte, wenn ich zu lange hier oben bliebe. Also habe ich allen verkündet, ich wollte gar nicht zurückkehren.«
»Und das war keine Lüge?«
»Ich wußte es damals noch nicht. Inzwischen sieht es aber so aus, als würde ich gern bleiben.«
»Ich hätte gedacht, daß man Sie unter diesen Umständen erst recht nicht würde reisen lassen.«
»Warum?«
»Im allgemeinen widerstrebt es den terrestrischen Behörden, Physiker für immer auf den Mond zu schicken.«
Der Mann verzog den Mund. »In dieser Hinsicht hatte ich überhaupt keine Schwierigkeiten.«
»Nun, wenn Sie einer von uns werden wollen, sollten Sie die Turnhalle kennenlernen. Die Erdchen interessieren sich oft dafür, aber wir lassen sie im allgemeinen nicht hinein — obwohl es nicht unbedingt verboten ist. Bei Immigranten ist das etwas anderes.«
»Warum?«
»Nun, zum einen finden unsere Übungen ohne — oder fast ohne Bekleidung statt. Warum auch nicht?« Ihre Frage klang, als sei sie es müde, die Einstellung ihres Volkes immer wieder verteidigen zu müssen. »Die Temperatur ist geregelt, die Halle sauber. Wenn allerdings Erdchen auf Besuch kommen, hat die Nacktheit plötzlich etwas Beunruhigendes. Denn manche Erdchen sind offen schockiert; andere lassen sich anregen — und einige sogar beides. Wir denken nicht daran, uns ihretwegen in der Turnhalle anzuziehen; und da wir auch keine Lust haben, unsere Nacktheit zu verteidigen, halten wir sie eben draußen.«
»Aber die Immigranten?«
»Die müssen sich sowieso daran gewöhnen. Irgendwann werden auch sie die Kleidung ablegen. Und sie brauchen die Turnhalle sogar noch mehr als die eingeborenen Lunarier.«
»Ich will offen zu Ihnen sein, Selene. Mit weiblicher Nacktheit konfrontiert, lasse auch ich mich anregen. So alt bin ich nun wieder nicht…«
»Also lassen Sie sich anregen«, erwiderte sie gleichgültig, »aber Sie müssen dann auch allein damit fertig werden.«
»Müssen wir uns auch ausziehen?« Er betrachtete sie mit amüsiertem Interesse.
»Als Zuschauer? Nein. Möglich wäre es, aber wir müssen es nicht. So früh würde es Ihnen bestimmt etwas ausmachen, und Sie würden auch keinen besonders angenehmen Anblick bieten…«
»Sie sind aber wirklich brutal offen.«
»Haben Sie sich etwas eingebildet? Seien Sie doch ehrlich! Was mich angeht, so möchte ich Ihre privaten Empfindungen nicht zu sehr strapazieren: Wir bleiben also am besten beide angezogen.«
»Gibt es da keine Einwände? Ich meine, dagegen, daß ich als unschönes Erdchen einfach so mitkomme?«
»Nicht wenn ich dabei bin.«
»Also gut, Selene. Ist es weit?«
»Wir sind schon da. Nur hierherum.«
»Ah, dann hatten Sie die Sache von Anfang an geplant?«
»Ich dachte, daß es Sie vielleicht interessiert.«
»Warum?« Selene lächelte plötzlich. »Nur so ein Gedanke..
Der Mann von der Erde schüttelte den Kopf. »Ich fange langsam an zu glauben, daß Sie nie ganz ohne Hintergedanken sind. Lassen Sie mich mal raten. Wenn ich auf dem Mond bleibe, muß ich gelegentlich Sport treiben, um Muskeln, Knochen und vielleicht auch meine Organe in Form zu halten.«
»Jawohl. Wir alle tun das, besonders natürlich die Immigranten von der Erde. Der Tag wird kommen, da Sie täglich in die Turnhalle müssen.«
Sie kamen durch eine Tür, und der Mann von der Erde sah sich verblüfft um. »Das ist zum erstenmal so richtig wie auf der Erde.«
»Inwiefern?«
»Nun, so weitläufig. Ich hatte nicht gedacht, daß es auf dem Mond so große Räume gibt. Tische, Büroeinrichtungen, Frauen hinter den Tischen…«
»Brustfrei…« sagte Selene ernst.
»Ja, das entspricht nicht ganz der Handhabung auf der Erde, muß ich zugeben.«
»Wir haben auch eine Greifrutsche und einen Fahrstuhl für Erdchen. Die Anlage zieht sich über einige Stockwerke hin. Warten Sie einen Augenblick.«
Sie näherte sich einer Frau an einem der Tische und sprach leise mit ihr, während sich der Erdenmensch mit lächelnder Neugier umsah.
Selene kam zurück. »Überhaupt keine Schwierigkeit. Wir haben Glück. Es gibt heute ein Gerangel. Ein ziemlich gutes sogar; ich kenne die Mannschaften.«
»Das ist alles sehr eindrucksvoll. Ehrlich.«
»Wenn Sie damit die Größe meinen, muß ich Ihnen sagen, daß es kaum ausreicht. Wir haben drei Turnhallen. Dies ist die größte.«
»Es gefällt mir irgendwie, daß in der spartanischen Welt des Mondes soviel Platz für Mätzchen ist.«
»Mätzchen!« Selene schien eingeschnappt. »Wieso halten Sie das für Mätzchen?«
»Gerangel? Ist das nicht eine Art Spiel?«
»Man könnte es so nennen. Auf der Erde lassen sich solche Dinge als Sport ausüben; zehn Männer führen vor, zehntausend schauen zu. So ist es nicht bei uns; was Ihnen wie Mätzchen vorkommt, ist lebensnotwendig… Hier entlang; wir nehmen den Fahrstuhl, auf den wir vielleicht etwas warten müssen.«
»Ich wollte Sie nicht erzürnen.«
»Ich bin nicht wütend, aber Sie müssen auch real bleiben. Die Menschen auf der Erde sind an die Erdschwerkraft gewöhnt, seit vor dreihundert Millionen Jahren das Leben aus dem Meer kroch. Sie kommen auch ohne Übungen aus. Wir dagegen haben überhaupt keine Zeit gehabt, uns der Mondschwerkraft anzupassen.«
»Anders aussehen tun Sie aber.«
»Wenn Sie in der Mondschwerkraft geboren werden und aufwachsen, sind Ihre Knochen natürlich dünner und weniger massiv als bei einem Erdchen — doch das ist nur oberflächlich. Es gibt keine Körperfunktion — mag sie auch noch so unmerklich sein, etwa die Verdauung oder die Hormonsekretion, die nicht von der Schwerkraft abhängt und ein bewußtes Training erfordert. Wenn wir dieses Training mit Spiel und Spaß verbinden können, sind das noch lange keine Mätzchen… da kommt der Fahrstuhl.«
Der Mann von der Erde zögerte, doch Selene sagte ungeduldig, als regte sie sich noch immer darüber auf, den Mondstandpunkt verteidigen zu müssen: »Jetzt wollen Sie mir sicher sagen, daß der Fahrstuhl wie ein Flechtkorb aussieht. Das sagt hier jeder Besucher. Bei unserer Schwerkraft braucht er aber nicht stabiler zu sein.«
Der Fahrstuhl bewegte sich langsam abwärts. Sie waren die einzigen in der Kabine.
»Wird wohl wenig benutzt«, bemerkte der Mann.
Selene lächelte wieder: »Sie haben recht. Die Greifrutsche ist viel beliebter und macht auch mehr Spaß.«
»Was ist denn das?«
»Wie der Name schon sagt… da wären wir. Wir sind hier nur zwei Stockwerke tiefer. Eine Greifrutsche ist eine schlichte senkrechte Röhre, durch die man sich fallen lassen kann — ein Tunnel mit Griffen. Allerdings raten wir keinem Erdchen, das zu versuchen.«
»Zu riskant?«
»Eigentlich nicht. Sie könnten hinabklettern, als war’s eine Leiter. Aber da gibt es immer wieder junge Leute, die mit beträchtlichem Tempo durch den Schacht turnen, und die Erdchen wissen dann nicht, wie sie ausweichen sollen. Zusammenstöße sind sehr unangenehm. Was wir jetzt zu sehen bekommen, ist auch eine Art Greifrutsche — zum Abreagieren.«
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