Selene runzelte die Stirn. »Ich habe mal Bilder gesehen.«
»Aber sicher haben Sie noch keine Gibbons in Bewegung erlebt… Ich könnte mir wohl denken, daß Erdchen die Lunarier »Gibbons« nennen und es abwertend meinen, aber nichts hat mir ferner gelegen…«
Er lehnte mit beiden Ellenbogen auf dem Geländer und beobachtete die Bewegungen, die wie ein Lufttanz waren. Er fragte: »Wie leben die Erd-Immigranten hier, Selene? Ich meine Immigranten, die den Rest ihrer Tage auf dem Mond verbringen? Da ihnen die grundlegendsten lunarischen Fähigkeiten abgehen…«
»Das macht überhaupt keinen Unterschied. Immis sind vollwertige Bürger. Eine Diskriminierung gibt es nicht, jedenfalls keine rechtliche Diskriminierung.«
»Was soll das heißen, keine rechtliche Diskriminierung?«
»Nun, Sie haben es selbst gesagt. Es gibt Dinge, die Immis einfach nicht fertigbringen. Unterschiede bestehen also. Ihre medizinischen Probleme sind anders, und sie haben meistens auch eine schlechtere medizinische Vergangenheit. Wenn sie in mittlerem Alter zu uns kommen, sehen sie auch so aus — alt.«
Der Mann von der Erde senkte verlegen den Blick. »Können sie querheiraten? Ich meine, Immigranten und Lunarier?«
»Sicherlich. Ja, sie können Kinder zeugen.«
»Das meinte ich.«
»Natürlich. Warum sollte ein Immigrant keine guten Erbanlagen mitbringen? Himmel, mein Vater war auch ein Immi, wenn ich auch mütterlicherseits schon in der zweiten Generation Lunarier bin.«
»Da muß ihr Vater aber heraufgekommen sein, als er noch ziemlich… Oh, mein Gott…« Er erstarrte am Geländer, atmete zittrig ein. »Ich dachte, er würde die Stange verfehlen.«
»Keine Sorge«, entgegnete Selene. »Das ist Marco Fore. Er macht gern solche Mätzchen — ich meine, im letzten Augenblick erst zuzugreifen. Eigentlich ist das unschön, und ein wirklicher Champion tut es nicht. Trotzdem… Mein Vater war bei seiner Ankunft zweiundzwanzig.«
»So sollte es auch sein. Noch jung genug, um sich anpassen zu können, keine Gefühlsbindungen auf der Erde. Für das männliche Erdchen muß es sehr schön sein, eine geschlechtliche Beziehung mit einer…«
»Geschlechtliche Beziehung!« Mit ihrem Lächeln schien Selene einen Schock zu überspielen. »Sie glauben doch nicht etwa, daß mein Vater geschlechtliche Beziehungen zu meiner Mutter hatte! Wenn meine Mutter das hörte, würde sie Ihnen sofort gehörig den Kopf waschen.«
»Aber…«
»Künstliche Besamung, um alles in der Welt! Sex mit einem Erdenmann!«
Der Besucher blickte sie ernst an. »Ich dachte, es gäbe keine Diskriminierung?«
»Das ist doch keine Diskriminierung, das ist physikalische Tatsache. Ein Mann von der Erde kommt mit unserem Gravitationsfeld nicht zurecht. Wie geübt er auch sein mag, im Ansturm der Leidenschaft vergißt er sich vielleicht. Ich würde das Risiko jedenfalls nicht eingehen. Der ungeschickte Narr könnte sich glatt Arme oder Beine brechen — oder, was schlimmer wäre, mir das gleiche antun. Die Verbindung von Genen ist zwar denkbar, aber Sex ist eine ganz andere Sache.«
»Es tut mir leid, aber ist künstliche Besamung nicht verboten?«
Sie beobachtete gedankenverloren die Turner. »Das ist wieder Marco Fore. Solange er sich nicht produziert, ist er ganz gut, und seine Schwester steht ihm kaum nach. Wenn sie zusammenarbeiten, sind ihre Bewegungen das reinste Gedicht. Schauen Sie! Sie kommen zusammen hoch und umschwingen gleich die Stange, als wären sie eins. Er tut manchmal ein wenig großspurig, aber seine Muskelbeherrschung ist erstklassig… Ja, künstliche Besamung ist nach den Erdgesetzen verboten, aber wenn medizinische Gründe ins Spielkommen, ist sie erlaubt, und das ist natürlich oft der Fall, wie es jedenfalls heißt.«
Alle Akrobaten waren nun emporgestiegen und bildeten einen großen Kreis unterhalb des Geländers; die Roten auf der einen Seite, die Blauen auf der anderen. Sie hatten die Arme gehoben, und der Applaus dröhnte laut. Eine große Menschenmenge hatte sich am Geländer versammelt.
»Man sollte hier ein paar Sitze aufstellen«, sagte der Mann von der Erde.
»Aber nein. Das Ganze ist keine Vorstellung, sondern eine Turnübung. Wir wollen gar nicht mehr Zuschauer, als hier oben bequem unterkommen. Wir gehören da unten hin, nicht hier herauf.«
»Sie beherrschen das auch, Selene?«
»Sozusagen. Jeder Lunarier kann es. Ich bin natürlich nicht so gut wie sie. Ich habe noch in keiner Mannschaft mitgemacht…Jetzt kommt das Gerangel, das Spiel ohne Regeln, der wirklich gefährliche Teil. Alle zehn sind gleichzeitig in der Luft, und jede Seite versucht die Leute der Gegenseite in einen Fall zu drängen.«
»Einen wirklichen Fall?«
»So real wie möglich.«
»Geht das denn ohne Verletzungen ab?«
»Gelegentlich nicht. Theoretisch werden Gerangel nicht gern gesehen. Tatsächlich könnte man sie als Mätzchen bezeichnen, denn unsere Bevölkerung ist nicht so groß, daß wir jemanden ohne wirklichen Grund aus dem Verkehr ziehen können. Dennoch sind sie beliebt, und wir bringen einfach nicht die Stimmen für ein Verbot zusammen.«
»Wofür würden Sie stimmen, Selene?«
Selene errötete. »Ach, lassen wir das. Schauen Sie zu!«
Der Trommelrhythmus war nun donnernd laut, und die Gestalten im Schacht schössen pfeilschnell los. In der Mitte gab es ein wildes Durcheinander, doch als sich die Körper wieder trennten, hing jeder fest an einem Griff. Es folgte die Spannung des Wartens. Ein Mann sauste wieder los, dann ein zweiter, und wieder war die Luft von wirbelnden Körpern erfüllt. Immer neue Wechsel folgten.
»Die Wertung ist sehr kompliziert«, bemerkte Selene. »Es gibt einen Punkt für jeden Start, einen Punkt für jede Berührung, zwei Punkte für jede herbeigeführte Fehllandung, zehn Punkte, wenn man einen Gegner zu Boden zwingt, und unterschiedliche Strafpunkte für die verschiedenen Fouls.«
»Wer zählt die Punkte?«
»Wir haben Schiedsrichter für die vorläufigen Entscheidungen; bei Differenzen werden Fernsehaufzeichnungen herangezogen.«
Ein erregter Schrei klang auf, als ein Mädchen aus der blauen Mannschaft einem Jungen in Rot laut hörbar gegen die Flanke klatschte. Der Junge hatte sich zwar noch zur Seite geworfen, doch vergeblich, und als er nun unsicher nach einer Stange griff, stieß er ungeschickt mit dem Knie an die Wand.
»Wo hat er nur seine Augen?« fragte Selene aufgebracht. »Er hat sie überhaupt nicht kommen sehen.«
Das Treiben wurde lebhafter, und der Mann von der Erde versuchte nicht länger Schritt zu halten mit dem verwirrenden Hin und Her. Von Zeit zu Zeit berührte ein Springer eine Stange, ohne sich halten zu können. Dann lehnten sich alle Zuschauer über das Geländer, als wollten sie sich fürsorglich mit in das Getümmel stürzen. Einmal erhielt Marco Fore einen Schlag gegen das Handgelenk, und jemand rief: »Foul!«
Fore griff daneben und stürzte ab. Sein Fall kam dem Mann von der Erde sehr langsam vor, und Fore wand sich agil hierhin und dorthin und versuchte eine Stange nach der anderen zu greifen, ohne es ganz zu schaffen. Die anderen warteten; der übrige Kampf schien zunächst unterbrochen.
Fore fiel immer schneller, obwohl er sich bereits zweimal abgebremst hatte, ohne wirklich zugreifen zu können.
Er hatte den Boden des Schachtes fast erreicht, als mit schneller, eleganter Seitwärtsbewegung sein rechter Fuß nach einem Griff angelte und er plötzlich in der Luft stoppte, kopfüber ausschwingend, etwa drei Meter über dem Boden. Mit ausgebreiteten Armen hing er dort, und Applaus klang auf. Im nächsten Augenblick hatte er sich wieder aufgerichtet und kletterte hastig nach oben. »War das wirklich ein Foul?« fragte der Mann von der Erde.
»Wenn Jean Wong Marcos Handgelenk umfaßt hat, anstatt es nur zu stoßen, war es ein Foul. Der Schiedsrichter hat allerdings auf faires Spiel erkannt, und ich glaube nicht, daß Marco Einspruch erhebt. Allerdings ist er tiefer gefallen, als er mußte. Er hat ein Faible für solche Rettungen in letzter Minute; eines Tages verrechnet er sich bestimmt und verletzt sich… Oh, oh.«
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