„Selbstverständlich können immer mildernde Umstände auftreten, aber offen gestanden — vorläufig sehe ich keine… Nein, absolut keine, absolut, Dmitri Alexejewitsch! Na denn…“ Er hob sein Glas und nickte einladend. Mit steifen Fingern nahm Maljanow seinen Schwenker.
„Gut“, sagte er mit verzerrter Stimme.
„Aber darf ich trotzdem erfahren, was los ist?“
„Aber selbstverständlich!“ rief Igor Petrowitsch. Er leerte sein Glas, warf sich eine Zitronenscheibe in den Mund und nickte energisch.
„Selbstverständlich dürfen Sie das! Ich erzähl es Ihnen, ich bin dazu befugt. “ Und er erzählte.
Heute früh um acht war ein Wagen gekommen, um Snegowoi abzuholen und zum Flugplatz zu bringen. Der Fahrer staunte, daß Snegowoi nicht wie üblich am Torweg stand. Er wartete fünf Minuten, fuhr dann mit dem Lift rauf und klingelte an der Wohnungstür. Niemand öffnete, obwohl die Klingel, wie der Fahrer sehr wohl hörte, in Ordnung war. Daraufhin fuhr er wieder runter, rief aus der Telefonzelle an der Ecke seine Dienststelle an und meldete die entstandene Sachlage. Die Dienststelle versuchte, Snegowoi anzurufen, doch sein Apparat war pausenlos besetzt. Unterdessen ging der Fahrer ums Haus rum und konstatierte, daß alle drei Fenster Snegowois weit aufgerissen waren und daß in der Wohnung Licht brannte, obwohl die Sonne doch schon hoch stand. Sofort erstattete er Bericht. Es wurden kompetente Leute angefordert, die unverzüglich Snegowois Wohnung aufbrachen und in Augenschein nahmen. Sie konstatierten, daß alle Lampen brannten, daß auf dem Bett im Schlafzimmer ein aufgeklappter, doch schon gepackter Koffer lag, Snegowoi selber jedoch in seinem Arbeitszimmer am Tisch saß, in der einen Hand den Telefonhörer, in der anderen eine Makarow-Pistole. Die Untersuchung ergab, daß Snegowoi einer Schusswunde erlegen war, beigefügt aus ebendieser Pistole, durch einen Schläfenschuss aus nächster Nähe. Der Tod war augenblicklich eingetreten, zwischen drei und vier Uhr morgens.
„Und was hab ich damit zu tun?“ fragte Maljanow. Da erzählte ihm Igor Petrowitsch ausführlich, wie man die ballistische Kurve rekonstruiert und die Kugel entdeckt hatte, die durch den Kopf hindurch gegangen und in der Wand steckengeblieben war.
„Aber ich — was hab ich damit zu tun?“ fragte Maljanow, sich wie rasend an die Brust klopfend. Zu dem Zeitpunkt hatten sie bereits drei Gläser intus.
„Ja, tut er Ihnen denn leid?“ fragte Igor Petrowitsch.
„Ob er Ihnen leid tut, frag ich.“
„Natürlich tut er mir leid. Er war ein Pfundskerl… Aber ich — wie kommen Sie grade auf mich? Ich hab mein Lebtag keine Pistole angefasst! Ich war nicht beim Militär… Wegen der Augen…“ Igor Petrowitsch ließ seine Worte unbeachtet. Statt dessen berichtete er des langen und breiten, wie man binnen kürzester Frist ermittelt hatte, daß der Tote Linkshänder gewesen sei. Merkwürdig also, daß er sich mit der rechten Hand erschossen habe.
„Ja doch! Ja!“ stimmte Maljanow zu.
„Arnold Palytsch war tatsächlich Linkshänder. Ich weiß es auch, ich kann es bestätigen… Aber warum ich? Ich hab doch geschlafen, die ganze Nacht! Und überhaupt: Was hätte ich für Gründe — sagen Sie doch selbst!“
„Wer hat es denn sonst getan? Wer sonst?“ fragte Igor Petrowitsch katzenfreundlich.
„Wie soll ich das wissen? Sie — Sie müssen das rauskriegen!“
„Sie, mein Teuerster“, säuselte Igor Petrowitsch mit honigsüßer Zunge, Maljanow mit einem Auge durch den Kognakschwenker fixierend.
„Sie sind der Mörder!“
„Wahnsinn…“ hauchte Maljanow hilflos. Vor Verzweiflung war er den Tränen nahe. Plötzlich fuhr ein Windstoß ins Zimmer, blähte die zurückgezogene Gardine, und die irre Nachmittags sonne, jäh durchs Fenster brechend, fiel Igor Pe-trowitsch voll ins Gesicht. Er kniff die Augen zusammen, beschattete sein Gesicht mit der gespreizten Hand, rückte im Sessel zur Seite und stellte das Glas hastig auf den Tisch. Irgend etwas ging mit ihm vor. Er blinzelte heftig, seine Wangen röteten sich, das Kinn zuckte.
„Verzeihen Sie bitte“, sagte er, und seine Stimme klang auf einmal ganz normal und menschlich.
„Verzeihen Sie, Dmitri Alexejewitsch!… Vielleicht könnten Sie… Hier ist es ein bisschen zu…“ Er brach ab, denn in Bobkas Zimmer krachte etwas zu Boden und zerschellte mit anhaltendem Geklirr.
„Was ist das?“ fragte Igor Petrowitsch voller Argwohn, und seine Stimme hatte ihren menschlichen Klang wieder eingebüßt.
„Da ist… Da ist jemand drin“, sagte Maljanow, ohne weiter über Igor Petrowitschs seltsame Verwandlungen nachzudenken. Ihn bewegte etwas andres, ein völlig neuer Gedanke.
„Hören Sie mal!“ rief er und sprang auf.
„Kommen Sie mit! Da drin ist eine Freundin meiner Frau! Sie kann alles bezeugen! Ich hab die ganze Nacht geschlafen, bin nirgends gewesen.“
Einander schubsend und stoßend, hasteten sie durch den Flur.
„Interessant, sehr interessant“, sagte Igor Pe-trowitsch.
„Eine Freundin ihrer Frau… Wollen sehen!“
„Sie kann es bezeugen“, murmelte Maljanow.
„Gleich werden Sie sehen… Sie bezeugt es…“ Ohne anzuklopfen, stürzten sie in Bobkas Zimmer und blieben wie angewurzelt stehen. Das Zimmer war aufgeräumt und leer. Von Lidotschka keine Spur; kein Bettzeug mehr auf der Couch, der Koffer verschwunden. Am Fenster, vor den Scherben eines Tonkrugs (Choresm, XI. Jahrhundert), saß mit der unschuldigsten Miene der Welt Kaljam.
„Die da?“ fragte Igor Petrowitsch und wies auf Kaljam.
„Nein“, erwiderte Maljanow dümmlich.
„Das ist unser Kater, den haben wir schon lange… Ja, aber wo ist denn Lidotschka?“ Er blickte sich zur Flur garderobe um. Der weiße Mantel war fort.
„Mir scheint, sie ist weggegangen.“ Igor Petrowitsch zuckte die Achseln.
„Mir auch“, sagte er.
„Hier ist sie jedenfalls nicht.“ Maljanow trottete zu dem verunglückten Krug.
„Rindvieh!“ sagte er und verpasste Kaljam eine Ohrfeige.
Kaljam stob davon. Maljanow hockte sich hin. In tausend Scherben. Der schöne Krug…
„Hat sie bei Ihnen genächtigt?“ erkundigte sich Igor Petrowitsch.
„Ja“, erwiderte Maljanow finster.
„Wann haben Sie sie zum letzten Mal gesehen? Heute?“
Maljanow schüttelte den Kopf.
„Gestern. Das heißt, eigentlich doch heute. In der Nacht. Ich hab ihr Bettwäsche gegeben, und eine Decke…“ Er blickte in Bobkas Bettkasten.
„Bitte. Alles da.“
„Ist sie schon lange bei Ihnen?“ wollte Igor Pe-trowitsch wissen.
„Nein, erst seit gestern.“
„Und ihre Sachen — sind die hier?“
„Ich seh nichts“, erwiderte Maljanow.
„Auch der Mantel ist weg.“
„Komisch, nicht wahr?“ meinte Igor Petrowitsch. Maljanow winkte bloß ab.
„Soll sie bleiben, wo der Pfeffer wächst“, sagte Igor Petrowitsch.
„Mit den Weibern hat man nichts als Ärger. Kommen Sie, wir trinken noch ein Gläschen.“ Plötzlich ging die Wohnungstür auf, und in den Flur…
6.…und der Fahrstuhl sprang an. Maljanow blieb allein.
Lange stand er auf der Schwelle von Bobkas Zimmer, an den Türrahmen gelehnt, unfähig zu denken. Kaljam erschien, schlich, nervös mit dem Schwanz zuckend, an ihm vorbei, flitzte auf den Treppenflur hinaus und begann, eifrig den Zementfußboden zu lecken.
„Na schön“, sagte Maljanow schließlich, riss sich vom Türrahmen und ging ins große Zimmer. Dort war alles vollgeraucht, auf dem Tisch standen verwaist drei blaue Kognakschwenker — zwei leere und ein halbvoller. Die Sonne schien bereits auf die Bücherregale.
„Hat den Kognak mitgenommen“, sagte Maljanow.
„Schweinerei!“
Eine Weile saß er im Sessel, trank sein Glas aus. Draußen vor dem Fenster wummerte und knatterte es, durch die offene Wohnungstür drang vom Treppenhaus her Kindergeschrei und Fahrstuhllärm. Es roch nach Kohlsuppe. Er stand auf, schleppte sich, die Schulter am Türrahmen stoßend, hinaus auf den Treppenflur und blieb vor Snegowois Wohnung stehen. Das Türschloss war versiegelt, mit einem dicken Lacksiegel. Vorsichtig tippte er das Siegel an, fuhr zurück. Alles stimmte, war wirklich passiert. Der Bürger der Sowjetunion Oberst Arnold Pawlowitsch Snegowoi, dieser rätselhafte Mann, lebte nicht mehr…
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