Jessica nickte, ging zur Tür des Meditationsraums und öffnete sie. »Paul, komm bitte herein.«
Paul erschien mit einer störrischen Langsamkeit und sah dabei seine Mutter an, als sei sie eine Fremde. Bedächtigkeit lag in seinem Blick, als er der Ehrwürdigen Mutter zunickte. Er tat dies in einer Art, wie es unter Gleichrangigen üblich ist. Jessica schloß die Tür hinter ihm.
»Laß uns noch einmal auf deine Träume zurückkommen, junger Mann«, begann die alte Frau.
»Was wollt Ihr wissen?« fragte Paul.
»Träumst du in jeder Nacht?«
»Die meisten Träume sind es nicht wert, daß man sich ihrer erinnert. Natürlich kann ich mich an jeden Traum erinnern, aber manche sind es eben wert und manche nicht.«
»Und woran erkennst du den Unterschied?«
»Ich weiß es eben.«
Die alte Frau warf Jessica einen raschen Blick zu und sah dann wieder auf Paul. »Und der Traum, den du letzte Nacht hattest? Ist er es wert, daß man sich an ihn erinnert?«
»Ja.« Paul schloß die Augen. »Ich träumte von einer Grotte … und von Wasser … und einem Mädchen, das sich dort befand. Es war sehr mager und hatte große Augen. Ihre Augen waren völlig blau, nichts Weißes war in ihnen. Ich sprach mit ihr und erzählte ihr, daß ich auf Caladan die Ehrwürdige Mutter traf.« Er öffnete die Augen wieder.
»Und du hast diesem Mädchen all das erzählt, was erst heute hier geschehen ist?«
Paul dachte eine Weile nach und sagte dann: »Ja. Ich erzählte ihr, daß die Ehrwürdige Mutter da war und auf irgendeine seltsame Weise einen Einfluß auf mich ausübte.«
»Einen Einfluß«, keuchte die alte Frau. Erneut warf sie Jessica einen Blick zu und konzentrierte sich wieder auf Paul.
»Sag mir die Wahrheit, Paul: Hast du öfter solche Träume, in denen du Dinge siehst, die sich erst später ereignen?«
»Ja. Und von diesem Mädchen habe ich schon vorher geträumt.«
»Wirklich? Du kanntest sie schon?«
»Ich werde sie kennenlernen.«
»Erzähle mir von ihr.«
Wieder schloß Paul die Augen. »Wir sitzen irgendwo in der Geborgenheit einiger Felsen. Obwohl es Nacht ist, ist es sehr heiß, und irgendwo in einer Felsenöffnung erkenne ich Sand. Wir … warten auf etwas … offenbar auf einige andere Leute. Das Mädchen hat Angst, versucht aber, die Furcht vor mir zu verbergen. In mir herrscht Spannung. Sie sagt zu mir: ›Erzähle mir von den Wassern deines Heimatplaneten, Usul‹.« Paul öffnete die Augen und meinte: »Ist das nicht komisch? Mein Heimatplanet ist doch Caladan. Und von einer Welt namens Usul habe ich noch niemals gehört.«
»Geht der Traum noch weiter?« stieß Jessica hervor.
»Ja. Vielleicht hat sie mit dem Wort ›Usul‹ auch mich gemeint. Jedenfalls kann ich es mir vorstellen.« Erneut schloß er die Augen. »Sie fragt mich, ob ich ihr nicht von den Wassern erzählen kann. Ich nehme ihre Hand und trage ihr ein Gedicht vor. Ich sage es auf und muß ihr dabei einige Ausdrücke erklären, die sie nicht kennt. Wie ›Strand‹ und ›Brandung‹ und ›Tang‹ und ›Möwen‹.«
»Was ist das für ein Gedicht?« fragte die Ehrwürdige Mutter.
Mit geöffneten Augen erwiderte Paul: »Es ist nur eines der Gedichte, die Gurney Halleck für traurige Zeiten gemacht hat.«
Hinter Pauls Rücken begann Jessica zu rezitieren:
»Ich erinnere mich an salzigen Rauch
von Feuern,
die brennen am Strand.
Und Schatten unter den Pinien.
Möwen schweben
über die Landzunge dahin,
weiß über dem Grün …
Ein Wind geht durch die Bäume,
die Schatten vertreibend.
Die Möwen breiten die Schwingen aus
und steigen auf.
Sie füllen den Himmel
mit schrillem Geschrei.
Und ich höre den Wind,
wie er bläst über das Land,
und die Brandung.
Und ich sehe das Feuer,
das den Seetang verbrennt.«
»Das ist es«, nickte Paul.
Die alte Frau sah ihn an und sagte dann: »Junger Mann, als Sachwalter der Bene Gesserit, suche ich nach dem Kwisatz Haderach, jenem Mann, der einer der unsrigen ist. Deine Mutter ist der Ansicht, daß du dieser Mann sein könntest. Aber sie sieht dies durch die Augen einer Mutter. Die Möglichkeit sehe ich sehr wohl auch — aber nicht mehr.«
Sie schwieg, und Paul sah ihr an, daß sie ihn mit ihrem Schweigen aufforderte, dazu etwas zu sagen. Aber er sagte nichts.
Schließlich sagte die alte Frau: »Nun gut, wie du willst. Es ist Tiefe in dir; das ist mir klar.«
»Kann ich jetzt gehen?« fragte Paul.
»Willst du nicht hören, was dir die Ehrwürdige Mutter über den Kwisatz Haderach erzählen will?« fragte Jessica.
»Sie sagte mir bereits, daß diejenigen, die es versuchten, der Kwisatz Haderach zu sein, versagten und starben.«
»Aber ich kann dir einige Hinweise über den Grund ihres Versagens geben«, warf die Ehrwürdige Mutter ein.
Sie redet von Hinweisen , dachte Paul. Und im Grunde weiß sie gar nichts. Laut sagte er: »Dann gebt sie mir.«
Ein dünnes Lächeln huschte über die Züge der alten Frau. »Na gut: Es gilt, sich den Regeln zu unterwerfen.«
Paul fühlte Verblüffung in sich aufsteigen. Sie redete in banalen Begriffen. Nahm sie etwa an, daß seine Mutter ihn überhaupt nichts gelehrt hatte?
»Und das soll ein Hinweis gewesen sein?« fragte er.
»Wir sind nicht hier, um Haare zu spalten oder über die Bedeutung von Worten zu debattieren«, erwiderte die Ehrwürdige Mutter. »Die Weiden unterwerfen sich dem Wind so lange, bis sie so zahlreich und kräftig geworden sind, bis sie sich ihm entgegenstellen wie eine Mauer. Das ist ihr Daseinszweck.«
Paul starrte sie an. Sie hatte einen Zweck erwähnt, und das erinnerte ihn daran, daß all dies einem anderen dienen sollte. Er fühlte, wie der Ärger in ihm hochstieg, wie er sich auf die alte Frau konzentrierte, die in seiner Anwesenheit nichts als Binsenweisheiten von sich gab und Platitüden drosch.
»Ihr schließt die Möglichkeit, ich könnte der Kwisatz Haderach sein, nicht aus«, versetzte er. »Ihr redet über mich, aber verschwendet keinen Gedanken daran, wie wir meinem Vater beistehen könnten. Ich habe Euch mit meiner Mutter reden gehört. Und Eure Worte klangen so, als sei mein Vater bereits tot. Aber das ist er nicht!«
»Gäbe es eine Möglichkeit, ihm zu helfen, hätten wir das längst getan«, knurrte die alte Frau. »Aber vielleicht können wir dich retten! Es wird schwierig sein, aber nicht unmöglich. Für deinen Vater gibt es keinen Ausweg. Wenn du das begreifen würdest, hättest du bereits eine Bene-Gesserit-Lektion verstanden.«
Es war für Paul nicht unübersehbar, daß diese Worte seine Mutter hart trafen. Er musterte die alte Frau. Wie konnte sie sich erdreisten, in dieser Weise über seinen Vater zu sprechen? Was machte sie überhaupt so sicher? Er zitterte vor Wut.
Die Ehrwürdige Mutter wandte sich an Jessica. »Du hast ihn nach Art der Bene Gesserit erzogen, die Anzeichen sind unverkennbar. Ich hätte an deiner Stelle mich nicht anders verhalten und ebenfalls auf die Regeln gepfiffen.« Jessica nickte.
»Aber trotzdem warne ich dich«, fuhr die alte Frau fort, »den regulären Anweisungen des Ausbildungsprogramms nicht Folge zu leisten. Er muß ebenfalls lernen, seine innere Stimme unter Kontrolle zu halten. Er zeigt bereits gute Ansätze, aber es dürfte uns beiden klar sein, wieviel mehr an Training er noch benötigt. Und das ist das Wichtigste.« Sie ging einige Schritte auf Paul zu und sah zu ihm hinunter. »Auf Wiedersehen, junger Mensch. Ich hoffe für dich, daß du es schaffst. Und wenn es dir nicht gelingen sollte — eines Tages werden wir bestimmt erfolgreich sein.«
Sie sah noch einmal zu Jessica hinüber. Es schien, als verstünden sie sich auch ohne Worte. Dann verließ sie das Zimmer, ihre Gewänder raffend und ohne sich noch einmal umzusehen. Sie hinterließ in den beiden Zurückbleibenden den Eindruck, als seien ihre Gedanken bereits mit anderen Problemen beschäftigt.
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