Paul hatte gefühlt, wie seine Mutter neben ihn trat, ihren Wachtposten an der Tür mithin aufgab und fragte: »Und Ihr seht keine Hoffnung, Euer Ehrwürden?«
»Nicht für den Vater.« Und während die alte Frau Jessica mit einer Geste zum Schweigen verurteilte, wandte sie sich wieder Paul zu: »Verankere dies in deinem Bewußtsein, mein Junge: Eine Welt ruht auf vier Säulen …« Sie hatte vier gichtkranke Finger erhoben. »… der Gelehrsamkeit der Weisen, der Gerechtigkeit der Mächtigen, den Gebeten der Rechtschaffenen und dem Wagemut der Tapferen. Aber alle zusammen sind sie nichts wert …« Ihre Finger ballten sich zur Faust. »… ohne einen Herrscher, der die Kunst des Herrschens versteht! Erhebe dies zur Wissenschaft künftiger Traditionen!«
Aber mittlerweile war eine Woche ins Land gegangen. Seltsam, daß ihre Worte erst jetzt eine Wirkung zeigten. Jetzt, wo er zusammen mit Thufir Hawat im Trainingsraum saß, kroch leise Angst in Paul hoch. Als er Hawat ansah, stellte er fest, daß dieser ein wenig verblüfft die Stirn runzelte.
»Wo hat dein Bewußtsein die letzten Minuten gesteckt?« fragte Hawat.
»Bist du der Ehrwürdigen Mutter begegnet?«
»Dieser wahrsagenden Hexe des Imperators?« Hawat ließ interessiert seine Augendeckel klappen. »Ja.«
»Sie …« Paul zögerte. Er fragte sich, ob es richtig war, Hawat von diesem Test zu erzählen. Aber auch wenn er sich dafür entschieden hätte — er konnte es nicht. Irgend etwas hinderte ihn daran.
»Ja? Was war mit ihr?«
Paul atmete zweimal tief ein. »Sie sagte etwas.« Er schloß die Augen, rief sich die Worte ins Gedächtnis zurück, und als er sie aussprach, übernahm er unbewußt einen beinahe identischen Tonfall: »›Du, Paul Atreides, Abkömmling der Könige, Sohn eines Herzogs, mußt lernen zu herrschen. Das ist etwas, was keiner deiner Vorfahren verstand.‹« Er öffnete die Augen und sagte: »Ich wurde wütend und sagte ihr, daß mein Vater einen ganzen Planeten beherrscht. Und darauf erwiderte sie: ›Er ist dabei, ihn zu verlieren.‹ Als ich losrennen wollte, um meinen Vater zu warnen, meinte sie, er sei bereits gewarnt worden. Von dir, von meiner Mutter und vielen anderen Leuten.«
»Das stimmt«, murmelte Hawat.
»Aber warum gehen wir dann von hier fort?« verlangte Paul zu wissen.
»Weil der Imperator es so befohlen hat. Und weil die alte Hexe auch nicht unfehlbar ist in ihren Voraussagen. Was hat sie noch aus ihrem Schatzkästlein der Weisheit hervorgekramt?«
Paul sah auf seine zur Faust geballte Hand und zwang seine Muskeln, sich langsam zu entspannen. Sie hatte irgendwie Gewalt über mich , dachte er. Aber wie?
»Sie bat mich, ihr zu erzählen, was es bedeutet, zu herrschen«, sagte Paul. »Ich sagte ihr: jemand gibt die Befehle. Und sie erwiderte darauf, ich hätte noch sehr viel zu lernen.«
Und da hatte sie nicht einmal unrecht , dachte Hawat. Er nickte Paul zu, um ihn zum Weitererzählen zu ermuntern.
»Sie sagte, ein Herrscher müsse überzeugen können. Die anderen unter seinen Willen zu zwingen, sei keine Schwierigkeit. Nur überzeugte Männer stünden treu zu ihrem Herrscher.«
»Und wie hat ihrer Meinung nach dein Vater Männer wie Duncan und Gurney auf seine Seite gebracht?« fragte Hawat.
Paul zuckte die Achseln. »Außerdem sagte sie, ein guter Herrscher müsse unbedingt die Sprache seiner Welt erlernen, die auf jedem Planeten anders ist. Ich dachte, sie meinte damit, daß auf Arrakis kein Galach gesprochen wird und daß wir die Sprache der dort Lebenden studieren sollten. Aber sie meinte die Sprache der Felsen und Pflanzen, die Sprache, die man nicht mit den Ohren hört. Ich sagte darauf, daß sie das meint, was Dr. Yueh als Rätsel des Lebens bezeichnet.«
Hawat kicherte. »Und das hat sie geschluckt?«
»Sie drehte beinahe durch. Sie war der Meinung, das Rätsel des Lebens sei kein Problem, das von Menschen zu lösen sei, sondern eine Wirklichkeit, die man erfahren müsse. Woraufhin ich den ersten Lehrsatz des Mentats zitierte: ›Prozesse können nicht erfahren werden, indem man sie anhält. Das Verständnis muß ihrem Ablauf folgen, sich ihm anpassen und mit ihm fließen, um ihn zu erfahren.‹ Was sie aber zu befriedigen schien.«
Es scheint, als käme er allmählich darüber hinweg, dachte Hawat. Aber die alte Hexe hat ihn irgendwie erschreckt. Was hat sie damit bezweckt?
»Thufir«, sagte Paul, »wird Arrakis wirklich so schlimm sein, wie sie sagte?«
»Es gibt überhaupt nichts, was so schlecht ist, wie sie es sich vorstellte«, erwiderte er mit einem freundlichen Lächeln. »Nimm zum Beispiel diese Fremen, die Renegaten aus der Wüste. Ich schätze, daß es von ihnen viel, viel mehr gibt, als das Imperium vermutet. Auf Arrakis leben Menschen, Junge, eine große Menge von Leuten, und …«, Hawat hob den Zeigefinger bis zur Höhe seiner Augen, »… sie hassen die Harkonnens mit tiefster Inbrunst. Aber du solltest das für dich behalten, Junge. Ich sage dir das lediglich als Stellvertreter deines Vaters.«
»Mein Vater hat mir von Salusa Secundus erzählt«, sagte Paul. »Weißt du, Thufir, mir scheint, diese Welt muß Arrakis irgendwie gleichen. Sie ist vielleicht nicht ganz so schlimm, aber immerhin …«
»Man erfährt heutzutage nicht mehr viel über Salusa Secundus«, gab Hawat zu. »Unser Wissen ist alt und neue Informationen kommen kaum herein. Aber was man weiß, deckt sich ungefähr mit deinen Vermutungen.«
»Werden die Fremen auf unserer Seite sein?«
»Es wäre möglich.« Hawat stand auf. »Ich werde noch heute nach Arrakis abreisen. Und in der Zwischenzeit wirst du einem alten Mann einen Gefallen erweisen und dich bitte stets mit dem Gesicht zur Tür setzen, nicht wahr. Nicht daß ich denke, hier würde dir eine Gefahr drohen, aber was du hier nicht vergißt, wirst du an anderen Orten auch beherzigen.«
Paul stand ebenfalls auf und umrundete den Tisch. »Du reist heute schon ab?«
»Ja, heute. Und du folgst mir morgen. Wenn wir uns das nächstemal treffen, wird es auf dem Boden einer anderen Welt sein.« Er kniff Paul in die Oberarmmuskeln. »Und den Messerarm immer frei halten, klar? Und den Schild auf volle Leistung.« Er ließ den Arm fallen, klopfte Paul auf die Schulter, wirbelte herum und ging schnell hinaus.
»Thufir!« rief Paul ihm nach.
Hawat kehrte zurück, blieb auf der Schwelle stehen.
»Und niemals mit dem Rücken zur Tür«, sagte Paul.
Ein Grinsen zog über Hawats faltenreiche Züge. »Das werde ich schon nicht, Junge. Da kannst du Gift drauf nehmen.« Dann war er verschwunden und zog sanft die Tür hinter sich zu.
Paul nahm Hawats Sitzplatz ein und ordnete seine Papiere. Noch einen Tag auf Caladan , dachte er. Er sah sich im Trainingsraum um. Dann gehen wir. Irgendwie wurde ihm erst jetzt richtig bewußt, daß der Abschied von dieser Welt kurz bevorstand. Und ihm fiel noch etwas ein, was die alte Frau über die Summe dessen, was eine Welt ausmachte, gesagt hatte: die Leute, der Schmutz, die Gewächse, die Monde, die Gezeiten, die Sonnen. All das machte die Summe jener Unbekannten aus, die man Natur nannte; eine vage Aufzählung ohne irgendeinen Sinn des Jetzt. Und er fragte sich: Was ist das Jetzt?
Die Paul nun gegenüberliegende Tür sprang auf, und ein untersetzter, ziemlich häßlicher Mann, bepackt mit einem Arm voller Waffen, trat ein. »Nanu, Gurney Halleck«, rief Paul, »bist du der neue Waffenmeister?«
Halleck trat die Tür mit der Ferse zu. »Du denkst sicher, daß ich gekommen bin, um mit dir ein Spielchen zu machen«, sagte er und schaute um sich, als wolle er sich davon überzeugen, daß Hawats Männer auch alles richtig hinausgetragen und alles Nötige für die Sicherheit des herzoglichen Erben getan hätten.
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