Paul desaktivierte seinen Schild und lehnte sich gegen den Tisch, um den Atem wieder unter Kontrolle zu bekommen. »Ich verstehe das, Gurney. Aber du hättest meinen Vater sicher gegen dich aufgebracht, wäre ich verletzt worden. Ich möchte nicht, daß man dich wegen meines Versagens bestraft.«
»Was diese Sache angeht«, erwiderte Halleck, »wäre das genauso mein eigenes Versagen gewesen. Außerdem brauchst du dir keine Sorgen über die eine oder andere Narbe zu machen, die man sich beim Training zuziehen kann. Und was deinen Vater betrifft: der Herzog wäre höchstens erbost darüber, wenn ich es nicht schaffen würde, aus dir einen erstklassigen Kämpfer zu machen. Und das wäre mir nicht gelungen, hätte ich so getan, als würden wir hier lediglich herumspielen.«
Paul erhob sich und steckte den Bodkin wieder in die Scheide zurück.
»Es ist wirklich kein Spiel, das wir hier treiben«, fügte Halleck hinzu.
Paul nickte. Er wunderte sich über die ungewöhnliche Ernsthaftigkeit Hallecks. Er starrte auf die breite Narbe am Kinn des Mannes und erinnerte sich daran, wie er zu ihr gekommen war: in einer Sklavenunterkunft der Harkonnens auf Giedi Primus. Und er fühlte einen Moment lang ein Gefühl der Scham, weil ihm während des Kampfes der Gedanke gekommen war, Halleck könne es ernst meinen. Eine solche Narbe konnte einem Menschen nur unter Schmerzen zugefügt werden, unter sehr starkem Schmerz, der sicher viel intensiver gewesen sein mußte als der, den er durch die Ehrwürdige Mutter erfahren hatte. Paul schob den Gedanken daran beiseite; er brachte beinahe sein Bewußtsein zum Erstarren.
»Wahrscheinlich habe ich wirklich auf ein Spiel gehofft«, sagte Paul. »Seit einiger Zeit sind die Dinge um mich herum ein wenig ernst geworden.«
Um seine Gefühle zu verbergen, wandte sich Halleck ab. Irgend etwas brannte in seinen Augen. Es war Schmerz in ihm, wie in einer Brandblase, und es schien, als sei dies alles, was von seiner Vergangenheit übriggeblieben war.
Dieses Kind muß schnell die Reife eines Erwachsenen erreichen , dachte er. Und sein Bewußtsein den Zusammenhang brutaler Gefahren.
Ohne sich umzudrehen, sagte er: »Ich habe gemerkt, daß du spielen wolltest, Junge, und ich bin wirklich der letzte, der sich weigert, dabei mitzumachen. Aber von nun an wird es kein Spiel mehr sein. Morgen gehen wir nach Arrakis. Und Arrakis ist ebenso real wie die Harkonnens.«
Paul berührte mit der flachen Seite der Rapierklinge seine Stirn.
Halleck wandte sich um, sah die Salutsbezeigung und quittierte sie mit einem Nicken. Er deutete auf die Übungspuppe. »Wir müssen noch etwas an deinem timing arbeiten. Laß mich einmal sehen, wie du den Pappkameraden angehst. Ich werde es von diesem Platz aus beobachten. Und laß es dir eine Warnung sein: Ich werde heute einige dir neue Gegenangriffe ausprobieren. Eine solche Warnung würde dir ein wirklicher Feind niemals zukommen lassen.«
Pauls Gestalt straffte sich. Er stellte sich auf die Zehenspitzen, um seine Muskeln zu spannen. Irgendwie kam er sich unter dem Eindruck dieser ganzen plötzlichen Wechsel erwachsener vor. Er ging auf die Übungspuppe zu, berührte den Schalter an ihrer Hüfte mit der Spitze seines Rapiers und spürte, wie das sich einschaltende Feld seine Klinge beiseite drückte.
»Angriff!« donnerte Halleck, und die Puppe erwachte zum Leben.
Paul aktivierte seinen Schild, parierte und schlug zurück.
Während Halleck die Kontrollen bediente, ließ er keinen Blick von dem Jungen. Sein Bewußtsein schien sich zu spalten: das eine Auge musterte die Bewegungen Pauls, das andere die der Puppe.
Ich bin wie ein mit Wissen gefülltes Lehrbuch, dachte er. Voll mit allen existierenden Tricks und Kniffen und bereit, jedermann davon profitieren zu lassen.
Aus unerfindlichen Gründen mußte er plötzlich an seine Schwester denken, deren elfenhaftes Gesicht vor seinem inneren Auge erschien. Sie war tot, umgekommen in einem Truppenbordell der Harkonnens. Sie hatte Stiefmütterchen geliebt — oder Gänseblümchen? Er wußte es nicht mehr. Es ärgerte ihn, daß er sich daran nicht mehr erinnern konnte.
Paul konterte einen langsam geführten Schlag der Puppe, riß die linke Hand hoch und durchbrach den Schild.
Wie ein flinker, ausgefuchster Teufel! dachte Halleck. Er hat garantiert heimlich geübt. Es ist weder Duncans Stil noch der meinige.
Dieser Gedanke trug noch mehr zu seiner Traurigkeit bei. Auch ich brauche Lust dazu, dachte er. Und er fragte sich, ob der Junge je gemerkt hatte, wie er nachts einsam in sein Kissen weinte.
»Wären unsere Wünsche wie Fische, würden wir sie mit Netzen einfangen«, murmelte er.
Es war eine Redensart, die seine Mutter stets benutzt hatte, und Halleck wendete sie stets an, wenn die Dunkelheit des unbekannten Morgen an ihm nagte. Aber ihm fiel auf, daß diese Redensart überhaupt nicht zu einem Planeten paßte, der weder Meere noch Fische kannte.
YUEH (yü'ě), Wellington (wěl'ing-tǔn), Stndrd 10 082-10 191; Arzt der Suk-Schule (grad. Stndrd 10 112); verh. m.: Wanna Marcus, B. G. (Stndrd 10 092-10 186?); haupts. bek. gew. weg. s. Verrats an Herzog Leto Atreides (Cf: Bibliographie, Appendix VII / Kaiserliche Konditionierung / und Betrug, Der).
Aus ›Wörterbuch des Muad'dib‹, von Prinzessin Irulan.
Obwohl Paul deutlich hörte, wie Dr. Yueh den Trainingsraum betrat und gleichzeitig registrierte, daß die Stimmung des Mannes nicht die beste war, blieb er ausgestreckt und mit dem Gesicht nach unten auf dem Übungstisch liegen — so, wie die Masseuse ihn zurückgelassen hatte. Nach der anstrengenden Übungsstunde mit Gurney Halleck fühlte er sich herrlich entspannt.
»Du machst einen zufriedenen Eindruck«, sagte Yueh in der ihm eigenen kühlen, etwas seltsam hoch klingenden Stimme.
Paul hob den Kopf und sah die steife Gestalt nur wenige Schritte von sich entfernt stehen. Ein kurzer Blick zeigte ihm, daß Yueh aussah wie immer: in schwarzer Kleidung, mit purpurnen Lippen und einem quadratschädeligen Kopf und einem herabhängenden Schnauzbart. Die diamantene Tätowierung der Kaiserlichen Konditionierung prangte auf seiner Stirn. Sein langes schwarzes Haar wurde auf der linken Seite von einem Silberreif der Suk-Schule zusammengehalten.
»Es wird dich vielleicht freuen, daß wir heute keine Zeit für irgendeinen Unterricht haben werden«, fuhr Yueh fort. »Dein Vater wird gleich hierher kommen.«
Paul setzte sich auf.
»Ich habe allerdings dafür gesorgt, daß dir während des Fluges die Filmbücherei zur Verfügung steht.«
»Oh.«
Paul begann sich anzuziehen. Es freute ihn, daß sein Vater kommen wollte. Seit dem Befehl des Imperators, das Lehen auf Arrakis zu übernehmen, hatten sie wenig Zeit miteinander verbracht.
Vom Ende des Tisches aus dachte Yueh: Was der Junge in den letzten Monaten alles gelernt hat! Welche Verschwendung! Welch traurige Verschwendung. Und er erinnerte sich daran, was er sich selbst vorgenommen hatte: I ch darf auf keinen Fall schwach werden! Was ich tue, tue ich nur, um zu verhindern, daß meine Wanna noch weiter von diesen Harkonnen-Bestien gequält wird.
Paul kam auf ihn zu und schloß sein Jackett. »Was werde ich während der Reise alles erfahren?«
»Mmmmm, etwas über die irdischen Lebensformen auf Arrakis. Es scheint, daß der Planet eine Reihe von Lebensformen angenommen hat, die ursprünglich von der Erde stammten. Man hat noch nicht herausgefunden, wie. Nach unserer Ankunft werde ich den planetaren Ökologen — einen gewissen Dr. Kynes — aufsuchen und ihm anbieten, ihn bei seinen Forschungen zu unterstützen.«
Und Yueh dachte: Was rede ich denn da? Jetzt belüge ich mich schon selbst.
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