Pauls Prüfung lag hinter ihnen, und die Sonne schickte sich an, unterzugehen. Während Paul in seinem schalldichten Meditationsraum verschwunden war, saßen die beiden Frauen allein in Jessicas Salon.
Das heißt, die Ehrwürdige Mutter saß. Jessica stand an einem der Fenster, und schaute, jedoch ohne das geringste draußen wahrzunehmen, über die Wiesen und den daran angrenzenden Fluß. Obwohl sie die Worte der alten Frau deutlich vernommen hatte, drangen sie nicht bis zu ihrem Bewußtsein durch.
Ihre Gedanken waren bei einer anderen Prüfung, die lange zurücklag, und die einem dünnen Mädchen mit bronzenem Haar gegolten hatte, das der Pubertät kaum entwachsen gewesen war. Diese Prüfung hatte ebenfalls unter der Aufsicht der Ehrwürdigen Mutter Gaius Helen Mohiam stattgefunden, und zwar in der Bene-Gesserit-Schule von Wallach IX. Jessica warf einen Blick auf ihre rechte Hand, öffnete sie und erinnerte sich an den Schmerz, an die Erniedrigung und ihre Wut.
»Der arme Paul«, flüsterte sie.
»Ich habe dir eine Frage gestellt, Jessica«, ertönte ärgerlich und verlangend die Stimme der alten Frau in ihrem Rücken.
»Bitte? Oh …« Jessicas Gedanken lösten sich von den Schrecken der Vergangenheit und fanden zur Ehrwürdigen Mutter zurück, die zwischen den beiden westlichen Fenstern mit dem Rücken gegen die Steinwand gelehnt saß, »was wolltet Ihr von mir hören?«
»Was ich von dir hören will? Was ich von dir hören will?« äffte die alte Frau ihr nach.
»Mir wurde soeben ein Sohn geschenkt«, erklärte Jessica mit fester Entschlossenheit und stellte gleichzeitig fest, daß der in ihr aufwallende Ärger provoziert zu werden schien.
»Man hat dir aufgetragen, den Atreides' Töchter zu gebären!«
»Aber es war so wichtig für ihn …«, verteidigte sich Jessica.
»Und in deinem überheblichen Stolz hast du natürlich sofort angenommen, du würdest dem Kwisatz Haderach das Leben schenken!«
Mit vorgerecktem Kinn erwiderte Jessica: »Ich habe die Möglichkeit zumindest nicht ausgeschlossen.«
»Du hast an nichts anderes als an die Befriedigung gedacht, die der Herzog bei der Geburt eines Sohnes haben würde«, stellte die Ehrwürdige Mutter fest. »Aber die Wünsche, die der Herzog hat, zählen in diesem Falle nichts! Eine Tochter hätte mit einem Harkonnen verheiratet werden können, was das Ende einer Feindschaft nach sich gezogen hätte. Mit dem, was du angerichtet hast, wird die Sache nur noch mehr kompliziert. Es besteht die Möglichkeit, daß wir jetzt beide Blutlinien verlieren!«
»Auch Ihr seid nicht unfehlbar«, sagte Jessica und erwiderte den Blick der Alten ohne Furcht.
Ernüchtert murmelte die Ehrwürdige Mutter: »Was geschehen ist, ist nicht mehr rückgängig zu machen.«
»Ich habe mir geschworen, meinen Entschluß niemals zu bereuen«, fügte Jessica hinzu.
»Wie edel!« knirschte die Ehrwürdige Mutter. »Laß uns noch einmal darüber sprechen, wenn man dich für vogelfrei erklärt hat und eine Belohnung auf deinem Kopf steht! Wenn jedermann danach giert, dein Leben wie auch das deines Sohnes auszulöschen!«
Jessica erblaßte. »Gibt es denn keinen Ausweg?«
»Einen Ausweg? Wie kann eine Bene Gesserit nur eine solch törichte Frage stellen!«
»Ich möchte nur wissen, was Ihr mit Euren Fähigkeiten aus der Zukunft herauslest.«
»Die Zukunft, die ich sehe, ist identisch mit der der Vergangenheit. Du weißt sehr gut, wie ich das meine, Jessica. Die Rasse ist sich ihrer Sterblichkeit bewußt und fürchtet nichts mehr als die Auswirkungen der Stagnation. Das Imperium, die MAFEA, die Hohen Häuser — sie alle fürchten sich davor, das Treibholz zu sein das die Flut hinwegspült.«
»Die MAFEA«, murmelte Jessica. »Ich nehme an, es ist bereits eine beschlossene Sache, wie sie unser Leben auf Arrakis sabotieren wird.«
»Diese Gesellschaft ist das Barometer unserer Zeit«, erwiderte die Ehrwürdige Mutter. »An dem, was sie tut, kann man die Ströme der Zukunft erkennen. Zur Zeit werden 59,65 Prozent ihrer Aktien vom Imperator und seinen Getreuen kontrolliert. Natürlich riechen sie die dicken Profite. Und ebenso wie die anderen sie riechen, wird dies einen großen Einfluß auf manche Stimmabgabe ausüben. Das ist nun einmal der Lauf der Welt, Mädchen.«
»Und das ist, was ich jetzt am nötigsten brauche«, sagte Jessica. »Eine Lektion in Geschichte.«
»Mach keine Scherze, Mädchen. Du weißt ebensogut wie ich, welche Mächte uns bedrohen. Unsere Zivilisation basiert auf drei Eckpfeilern: auf dem kaiserlichen Hof, gegen den die Hohen Häuser des Landsraad stehen, und der Gilde, die das verderbliche Monopol des interstellaren Transportwesens besitzt. Und was die Politik angeht, so hat sich in ihr ein auf drei Beinen stehendes Kontrollsystem schon immer als das instabilste erwiesen. Und es wäre auch schlimm genug ohne die Komplikationen einer feudalistischen Handelsgesellschaft, die den meisten Wissenschaften ignorantenhaft den Rücken zukehrt.«
Jessica sagte bitter: »Sägespäne, die auf einem Fluß dahintreiben. Und der hiesige Span ist Herzog Leto, mitsamt seinem Sohn und …«
»Ah, sei doch still, Mädchen! Dir war doch von Anfang an klar, welche Last du dir aufbürden würdest.«
»Ich bin eine Bene Gesserit — und ich lebe, um zu dienen«, rezitierte Jessica.
»Richtig«, erwiderte die Ehrwürdige Mutter. »Und alles, was wir uns erhoffen können, ist, daß es möglich ist, eine offene Auseinandersetzung zu vermeiden. Daß wir zumindest die wichtigsten Blutlinien retten können.«
Als Jessica spürte, wie sich Tränen in ihren Augen sammelten, preßte sie die Lider zusammen. Beherzt kämpfte sie gegen das innere und äußere Zittern ihres Körpers, gegen ihren stoßweise gehenden Atem und die schweißfeuchten Handflächen an. Schließlich meinte sie: »Ich werde für meine eigenen Fehler zu bezahlen haben.«
»Und mit dir dein Sohn.«
»Ich beschütze ihn, so gut ich das kann.«
»Beschützen!« stieß die alte Frau hervor. »Aber das klingt nach Schwäche! Wenn du ihn zu sehr beschützt, Jessica, wird er niemals in der Lage sein, über sich hinauszuwachsen und irgendein Schicksal zu erfüllen!«
Jessica wandte sich um, warf einen Blick aus dem Fenster und die heraufziehende Dunkelheit. »Ist es wirklich so schrecklich auf Arrakis?«
»Schlimm genug — aber so schlimm nun auch wieder nicht. Die Missionaria Protectiva ist bereits dort gewesen und hat einiges ein wenig aufgeweicht.« Die Ehrwürdige Mutter stand auf und glättete die Falten ihres Gewandes. »Und nun ruf den Jungen. Ich werde euch bald wieder verlassen müssen.«
»So bald?«
Die Stimme der alten Frau verlor an Schärfe. »Jessica — Mädchen, ich wünschte wirklich an deiner Stelle zu sein und dein Leid mitzutragen. Aber jede von uns muß ihren eigenen Weg gehen.«
»Ich weiß.«
»Du bist mir ebenso lieb wie meine eigenen Töchter, Jessica; aber auch das darf mich nicht an der Ausübung meiner Pflicht hindern.«
»Ich sehe die … Notwendigkeit ein.«
»Was und warum du es getan hast, Jessica — wir beide wissen es. Aber dennoch: im Angesicht unserer Freundschaft muß ich dir sagen, daß es noch keinen hieb- und stichfesten Beweis dafür gibt, daß dein Sohn der Kwisatz Haderach ist. Du solltest dich nicht zu sehr in diesen Glauben versteifen.«
Jessica wischte Tränen aus ihren Augen, und die Bewegung, die sie dabei machte, wirkte ein wenig verärgert. »Ihr behandelt mich wie ein kleines Mädchen, dem man die erste Lektion einbläut.« Und etwas heftiger: »Menschen dürfen sich niemals Tieren unterwerfen.« Ein trockenes Schluchzen schüttelte sie. Leise fügte sie hinzu: »Ich war so einsam.«
»Vielleicht war das auch eine Art Test«, erwiderte die alte Frau. »Menschen sind immer einsam. Aber hole jetzt den Jungen herein. Er hat einen langen, furchterfüllten Tag hinter sich. Aber er hatte genügend Zeit, über das, was ihm heute widerfahren ist, nachzudenken und daraus seine Schlüsse zu ziehen. Du weißt, daß ich ihm noch die Fragen über seine Träume stellen muß.«
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