Und jetzt war dieser Tag gekommen.
Mapes steckte das Messer in die Scheide zurück und sagte: »Dieses Messer ist auf keine bestimmte Person fixiert, Mylady. Behalten Sie es in Ihrer Nähe. Wenn es länger als eine Woche von Ihnen entfernt ist, fängt es an, sich aufzulösen. Es ist für Sie — gemacht aus dem Zahn eines Shai-huluth -, solange Sie leben.«
Jessica streckte die rechte Hand aus und sagte: »Du hast es in die Scheide zurückgesteckt, ohne daß Blut an ihm haftet, Mapes.«
Mit einem Aufstöhnen ließ Mapes das Messer in Jessicas Handfläche fallen, öffnete über ihrer Brust das Gewand und rief: »Nimm das Wasser meines Lebens!«
Jessica zog die Klinge aus der Scheide. Wie sie glitzerte! Sie richtete die Spitze auf Mapes und sah, wie Todesangst sich auf die Züge der Frau legte. Ob die Klinge vergiftet ist? fragte sie sich. Mit der Spitze ritzte sie ganz leicht Mapes Haut über der linken Brust ein. Ein dicker Blutstropfen erschien, das war alles. Es gerinnt mit unbegreiflicher Schnelligkeit, dachte sie. Eine Mutation, die zu große Flüssigkeitsverluste verhindert?
Sie ließ die Klinge wieder in der Scheide verschwinden und sagte: »Schließe deine Kleider, Mapes.«
Zitternd gehorchte die Frau. Die Augen, in denen sich nicht das geringste Weiß befand, schienen sich an Jessica festzusaugen.
»Sie gehören zu uns«, murmelte sie. »Sie sind die Erwartete.«
Von der Eingangshalle erklang erneut das Geräusch abgeladener Fracht. Blitzschnell griff Mapes nach der Messerhülle und schob es unter Jessicas Gewand. »Wer das Messer sieht, muß gereinigt oder erschlagen werden«, keuchte sie. »Denken Sie immer daran, Mylady!«
Ich weiß es jetzt, dachte Jessica.
Aber die Packer verschwanden wieder, ohne den Großen Saal zu betreten.
Mapes riß sich zusammen und sagte: »Die Ungereinigten, die ein Crysmesser erblickt haben, dürfen Arrakis nicht lebend verlassen. Vergessen Sie das nie, Mylady. Ihnen ist heute ein Crysmesser anvertraut worden.« Sie atmete schwer. »Nun müssen die Dinge ihren Gang gehen. Es darf nichts überstürzt werden.« Sie warf einen Blick auf die aufgestapelten Kisten und Schachteln, die fast den ganzen Saal einnahmen. »Und in der Zwischenzeit gibt es hier eine Menge Arbeit für uns zu tun.«
Jessica zögerte. Die Dinge müssen ihren Gang gehen. Das war eine der üblichen Beschwörungen der Missionaria Protectiva. Bis die Ankunft der Ehrwürdigen Mutter euch die Freiheit bringt.
Aber ich bin keine Ehrwürdige Mutter, dachte sie. Und plötzlich, sich geistig beinahe überschlagend: Große Mutter! Das haben sie also hier verbreitet! Arrakis muß einem besonderen Zweck dienen!
In sachlichem Tonfall sagte Mapes: »Was sollte ich Ihrer Meinung nach zuerst tun, Mylady?«
Der Instinkt warnte Jessica, in diesen Worten nichts Zufälliges zu sehen. Sie erwiderte: »Das Gemälde des alten Herzogs muß im Speisesaal aufgehängt werden. Der Schädel dieses Stiers sollte genau gegenüber dem Gemälde befestigt werden.«
Mapes ging zum Schädel hinüber. »Es muß eine riesige Bestie gewesen sein, wenn sie solch einen Schädel hatte«, meinte sie. Sie blieb stehen. »Sollte ich ihn nicht vorher reinigen, Mylady?«
»Nein.«
»Aber die Hörner sind etwas schmutzig geworden.«
»Das ist kein Schmutz, Mapes, sondern das Blut des alten Herzogs. Man hat sie nach dem Tod des Herzogs mit einer transparenten Konservierungsflüssigkeit eingesprüht.«
Mapes sagte erschreckt: »Oh, jetzt verstehe ich.«
»Es ist nur Blut«, sagte Jessica. »Altes Blut. Jemand sollte dir dabei helfen, es aufzuhängen. Es ist schwer.«
»Glauben Sie, das Blut würde mich ängstigen?« fragte Mapes. »Als Kind der Wüste habe ich schon eine Menge davon gesehen.«
»Das kann ich … verstehen«, meinte Jessica.
»Und einiges davon gehörte mir selbst«, fuhr Mapes fort. »Es war meist mehr als das, was Ihr kleiner Kratzer erzeugte.«
»Wäre es dir lieber gewesen, wenn ich fester zugestochen hätte?«
»O nein! Die Körperflüssigkeiten sind zu kostbar, um allzuviel davon zu verschwenden. Wie Sie es taten war es schon richtig.«
Die Art und Weise, wie sie dies sagte, ließ Jessica die Implikationen der Phrase ›die Körperflüssigkeiten‹ besser verstehen. Wieder wurde ihr die Wichtigkeit des Wassers auf Arrakis bewußt.
»Auf welche Wand des Speisesaals soll ich nun was hängen, Mylady?« fragte Mapes.
Sie ist sehr praktisch veranlagt, diese Mapes, dachte Jessica. Und das ist es, was die Fremen auszeichnet: der Drang, irgend etwas zu unternehmen.
Laut sagte sie: »Treffe deine eigenen Entscheidungen, Mapes. Es ist wirklich egal, was wo hängt.«
»Wie Sie wünschen, Mylady.« Mapes bückte sich und nahm den Schädel auf. »Dieser Stier hat den alten Herzog getötet?« fragte sie.
»Soll ich jemanden rufen, der dir beim Anfassen hilft?« fragte Jessica.
»Ich mache das schon, Mylady.«
Ja , dachte Jessica, sie wird es schon machen. Sie fühlte die alte Lederscheide des Crysmessers an ihrem Körper und erinnerte sich an die ganze Kette der Bene-Gesserit-Verhaltensweisen, auf die sie hier gestoßen war. Es war diesen Verhaltensweisen zu verdanken, daß sie eine tödliche Krisis überstanden hatte. ›Es darf nichts überstürzt werden‹, hatte Mapes gesagt. Aber dennoch war in ihr der Drang, irgendeinen Vorsprung aufzuholen, ein Drang, der ihr zu schaffen machte. Und weder die gesamten Vorbereitungen der Missionaria Protectiva, noch Hawats mißtrauische Untersuchung dieses felsigen Gemäuers konnten dieses Gefühl herabmindern.
»Wenn du mit dem Aufhängen fertig bist«, sagte Jessica, »kannst du mit dem Auspacken der Kisten beginnen. Einer der Packer in der Vorhalle hat alle nötigen Schlüssel und weiß, wo alles hingehört. Laß dir die Schlüssel und eine Liste geben. Wenn du irgendwelche Fragen hast, findest du mich im Südflügel.«
»Wie Sie wünschen, Mylady«, sagte Mapes.
Jessica wandte sich ab und dachte: Hawat mag der Meinung sein, diese Residenz sei sicher. Aber irgend etwas stimmt hier nicht. Ich fühle es.
Das plötzliche Verlangen, ihren Sohn zu sehen, ergriff plötzlich von ihr Besitz. Sie ging in den gewölbten Korridor hinaus, der in die Richtung des Speiseraums und der Privaträume führte. Sie wurde mit jedem Schritt schneller, zum Schluß rannte sie beinahe.
Hinter ihrem Rücken hielt Mapes für einen Augenblick in der Arbeit inne und sah ihr nach. »Sie ist wirklich die Erwartete«, murmelte sie. »Armes Ding.«
»Yueh! Yueh! Yueh!« lautet der Refrain. »Eine Million Tote sind nicht genug für Yueh!«
Aus ›Die Kindheitsgeschichte des Muad'dib‹, von Prinzessin Irulan.
Die Tür war nur angelehnt. Jessica passierte die Schwelle und betrat einen Raum mit gelben Wänden. Ihre linke Hand strich über ein kleines Sofa, das schwarz bezogen war, und zwei Bücherregale, an denen jemand eine Wasserflasche aufgehängt hatte, die staubig aussah. Zu ihrer Rechten, zu beiden Seiten einer zweiten Tür, standen weitere, noch leere Regale, ein caladanischer Tisch und drei Stühle. Am Fenster, ihr direkt gegenüber, stand Dr. Yueh, hielt ihr den Rücken zugewandt und schaute nach draußen.
Jessica machte einen weiteren lautlosen Schritt.
Sie sah, daß Yuehs Umhang zerknittert war. Weiße Streifen an seinem linken Ellbogen deuteten darauf hin, daß er sich gegen eine gekalkte Wand gelehnt haben mußte. Von hinten wirkte er wie eine fleischlose, hölzerne Figur, die man in übergroße Kleidung gesteckt hatte; eine Marionette, die darauf wartete, daß ihr Akteur jeden Augenblick an den Fäden zog und sie in Bewegung setzte. Lediglich der viereckige Schädel mit dem langen, ebenholzfarbenen, von einem Suk-Ring gehaltenen Haar schien von Leben erfüllt. Er bewegte sich sachte, als verfolge er irgendeine Bewegung, die sich außerhalb des Hauses abspielte.
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