Paul rieb mit der Hand über sein Kinn. Die ganze Ausbildung durch Hawat und seine Mutter — das Gedächtnistraining, die ständigen Hinweise auf die Wachsamkeit, die Muskelübungen, die richtige Benutzung seiner Sinne, die Sprach- und Stimmstudien — alles erschien ihm jetzt in einem völlig neuen Licht.
»Eines Tages«, sagte der Herzog, »wirst du der Herzog sein, mein Sohn. Und etwas Nützlicheres als einen Mentat-Herzog kann ich mir einfach nicht vorstellen. Bist du in der Lage, dich jetzt schon zur Weiterausbildung zu entscheiden? Oder brauchst du etwas Bedenkzeit?«
Ohne zu zögern sagte Paul: »Natürlich mache ich weiter.«
»Das freut mich«, murmelte der Herzog. Paul sah, wie sich ein stolzes Lächeln auf das Gesicht seines Vaters stahl. Aber das Lächeln schockierte ihn: es erschien ihm in diesem Augenblick wie das Grinsen eines Totenschädels. Paul schloß die Augen und fühlte erneut, daß er einem schrecklichen Schicksal entgegentrieb. Vielleicht erfülle ich dieses Schicksal, indem ich Mentat werde?
Aber noch während des Nachdenkens wurde ihm klar, daß er auf der falschen Fährte war.
Durch Lady Jessica und den Planeten Arrakis gelangte das Bene-Gesserit-System der Missionaria Protectiva (die Verbreitung von Legenden betreffend) schnell zu vollster Blüte. Das vorbeugende Ausstreuen von Gerüchten über das Erscheinen des Kwisatz Haderach im gesamten bekannten Universum ist anerkennend gewürdigt worden. Nie hat es eine Kampagne gegeben, deren Verbreitung in bezug auf Vorbereitung besser gewesen wäre. Und im Endeffekt führte dies sogar dazu, daß sich Legenden von selbst zu bilden begannen. Heute steht jedenfalls fest, daß die latenten Fähigkeiten der Lady Jessica weit unterschätzt wurden.
Aus ›Die Analyse der Arrakis-Krise‹, von Prinzessin Irulan. Privatdruck, Bene-Gesserit-Archiv, Nr. AR-81088-587.
Rings um Lady Jessica herum — in allen Ecken und auf dem Fußboden der größten Halle von Arrakeen [3] Vgl. die Karte der nördlichen Polarregion von Arrakis am Schluß des Buches.
— stand der Ballast ihres Lebens: Kisten, Koffer, Schachteln und Behälter, die erst zu einem kleinen Teil ausgepackt waren. Und von draußen konnte sie die Geräusche der Packer hören, die soeben eine neue Ladung vor dem Eingang abstellten.
Jessica stand im Mittelpunkt der Halle. Langsam drehte sie sich um und ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Der Raum war riesig, seine Wände getäfelt, seine Fenster schmal. Der Gigantismus erinnerte sie an den Schwesternsaal auf der Bene-Gesserit-Schule. Aber dort hatte der Raum eine gewisse Wärme ausgestrahlt. Hier schien es nur kaltes Gestein zu geben.
Irgendein Architekt hatte weit in die Vergangenheit gegriffen, als er diese hölzernen Wände und finsteren Vorhänge hatte anbringen lassen, schien ihr. Die gewölbte Decke befand sich fast zwei Stockwerke über ihr, und daran hingen nun die beiden gewaltigen Kronleuchter, deren Transport nach Arrakis Unsummen verschlungen hatte. Leider gab es auf Arrakis keinen Baum, aus dem man ähnliches hätte herstellen können — auch nicht aus imitiertem Holz.
Jessica dachte an nichts.
Dies war also während des Alten Imperiums der Regierungssitz gewesen. Damals konnte man noch weit billiger leben. Damals hatte die von den Harkonnens neuerbaute Hauptstadt Carthag noch nicht existiert. Arrakeen war ein gemütlicher und nicht zu teurer Ort zweihundert Kilometer nördlich des flachen Landes gewesen. Man konnte Letos Entschluß, seine Residenz hier aufzuschlagen, nur als weise bezeichnen. Der Name der Stadt Arrakeen hatte einen guten Klang und schien von Tradition erfüllt. Und außerdem war sie eine kleinere Stadt als Carthag, leichter zu überschauen und zu verteidigen.
Erneut drangen die Geräusche abgeladener Kisten an ihre Ohren. Jessica seufzte.
Ihr gegenüber, gegen einen Karton gelehnt, stand das Porträt des alten Herzogs, umwickelt noch von einem Bindfaden, als hätte jemand vergessen, es mitzunehmen. Und das Ende der Schnur befand sich noch immer in Jessicas Hand. Neben dem Bild lag, befestigt auf einer polierten Unterlage, der Schädel eines schwarzen Stiers. Er wirkte wie eine finstere Insel in einem Meer zerrissenen Papiers. Das kleine Schild, auf dem genauere Angaben über die Trophäe standen, lag auf dem Boden daneben, der aufgerissene Schlund des Stiers ragte zur Decke, als wolle er in der nächsten Sekunde einen brüllenden Protest von sich geben.
Jessica fragte sich, was sie dazu getrieben hatte, ausgerechnet diese beiden Gegenstände zuerst auszupacken. Ausgerechnet den Stier und das Gemälde. Ihr schien, als sei an dieser Handlung irgend etwas Symbolisches. Seit dem Tag, an dem die Beauftragten des Herzogs sie von der Schule geholt hatten, war ihr ihre Furcht und Unsicherheit bewußter gewesen.
Der Stier und das Gemälde.
Ihr Anblick erhöhte den Grad ihrer Verwirrung. Sie schüttelte sich und schaute zu den engen, schlitzähnlichen Fenstern hinüber. Obwohl es früher Nachmittag war, erschien ihr in diesen Breitengraden der Himmel finster und kalt, viel dunkler als der warme und blaue Himmel Caladans. Sie hatte plötzlich Heimweh.
Oh, Caladan …
»Ach, hier sind wir!«
Die Stimme Herzog Letos.
Jessica wirbelte herum, sah ihn in dem gewölbten Gang zum Speisesaal. Seine schwarze Arbeitsuniform mit dem roten Habichtabzeichen war staubig und sah mitgenommen aus.
»Ich hatte schon damit gerechnet, daß du dich in diesem Irrgarten verlaufen hättest«, sagte er.
»Es ist kalt hier«, erwiderte Jessica. Sie schaute ihn an in seiner ganzen Größe, und seine dunkle Haut ließ sie an Olivengewächse und die goldene Sonne auf blauem Wasser denken. Es schien, als sei Nebel in seinen Augen. Sein Gesicht sagte alles: es war abgemagert und voller scharfer Falten.
Plötzliche Furcht um ihn schnürte ihr die Brust zusammen. Seit er zu der Entscheidung gelangt war, sich dem Befehl des Imperators zu beugen, war er ein anderer Mensch geworden: wild und vor Entschlossenheit berstend.
»Die ganze Stadt wirkt kalt«, sagte Jessica.
»Sie ist nun mal eine schmutzige und verstaubte kleine Garnisonsstadt«, gab er zu. »Aber wir werden das irgendwann ändern.« Er warf einen Blick in die Halle. »Dies sind also die Räumlichkeiten für öffentliche Veranstaltungen! Ich habe mir soeben die Familienräume im Südflügel angesehen. Sie gefallen mir schon besser.« Er kam näher und berührte ihren Arm, als bewundere er ihre aufrechte Haltung.
Nicht zum erstenmal fragte er sich, von wem sie abstammen mochte. Vom Haus eines Renegaten vielleicht? Oder war sie das Produkt einer unstandesgemäßen Verbindung? Sie machte einen königlicheren Eindruck als die gesamte kaiserliche Familie.
Unter dem Druck seiner Augen wandte Jessica sich halb zur Seite und wandte ihm ihr Profil zu. Es gab in ihrem Gesicht nichts, das die Aufmerksamkeit eines Betrachters in besonderer Weise auf sich zog. Unter ihrem wie eine Kappe den Kopf umspannenden, wie poliertes Kupfer glänzenden Haar war ein ovales Gesicht. Ihre Augen standen weit auseinander, und sie waren so grün und klar wie der Morgenhimmel Caladans. Die Nase war klein, ihr Mund groß und edel. Ihr Körper war ebenmäßig, wenn auch gerade an der Grenze zur Hagerkeit. Jessica war groß und überschlank.
Er erinnerte sich, daß die anderen Mädchen auf der Schule sie ›die Dürre‹ genannt hatten. Jedenfalls hatten seine Handlungsbevollmächtigten davon gesprochen. Aber die Beschreibung hatte sich als Übertreibung erwiesen: Jessica hatte wieder etwa Schönheit in die Familie Atreides gebracht. Es war schön, daß Paul in seinem Äußeren eher auf sie herauskam als auf ihn.
»Wo ist Paul?« fragte er.
»Irgendwo im Haus. Yueh unterrichtet ihn.«
»Möglicherweise im Südflügel«, vermutete er. »Einmal glaubte ich sogar Yuehs Stimme zu hören, aber ich hatte nicht die Zeit, um nachzusehen.« Er blickte sie an und zögerte. »Ich bin eigentlich nur herübergekommen, um den Schlüssel von Burg Caladan im Speisesaal aufzuhängen.«
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