Aus einem Freund ist ein Untertan geworden, dachte Paul. Er kam sich plötzlich sehr einsam vor und musterte die Männer, die den gleichen Aufenthaltsraum mit ihm teilten. Aus ihren Augen sprach tiefste Verehrung, und es war offensichtlich, daß jeder der einzelnen hoffte, mit der Aufmerksamkeit Muad'dibs belohnt zu werden.
Muad'dib, der uns allen seinen Segen erteilt, dachte er bitter. Sie warten darauf, daß ich den Thron an mich reiße und wissen doch nicht, daß ich dies nur deshalb tue, um einen Djihad zu verhindern.
Stilgar räusperte sich und sagte: »Rabban ist ebenfalls tot.«
Paul nickte.
Die Wachtposten an der Tür traten zur Seite und machten Platz für Jessica. Sie trug eine schwarze Aba und ging mit Schritten, die deutlich zeigten, daß sie es lange gewohnt gewesen war, über den Sand zu laufen. Dessenungeachtet schien ihr die altvertraute Umgebung einiges Selbstvertrauen zurückzugeben. Jetzt war sie wieder das, was sie vorher gewesen war — die Konkubine eines regierenden Herzogs.
Sie blieb vor ihrem Sohn stehen und sah ihn an. Pauls Ermüdung blieb ihr nicht verborgen, dennoch sagte sie nichts. Es schien, als sei sie unfähig, irgendeine Emotion für ihren Sohn zu fühlen.
Jessica hatte die Halle betreten und sich im ersten Moment gefragt, wieso der Ort ihr so fremd erschien. Als sei sie nie hier gewesen, als hätte sie nie einen Fuß in dieses Haus gesetzt, in dem sie mit Leto gelebt hatte. Es war kaum zu glauben, daß sie in diesem Raum einst einem völlig betrunkenen Duncan Idaho gegenübergestanden hatte.
Es sollte eine Wortverbindung geben, dachte sie, die dem genauen Gegenteil von ›Adab‹, der intuitiven Erinnerung, entspricht.
»Wo ist Alia?« fragte sie.
»Sie ist draußen«, sagte Paul, »und sie tut das, was jedes echte Fremenkind in solchen Zeiten tun sollte. Sie tötet verwundete Gegner und markiert ihre Körper für die Teams, die deren Wasser einsammeln.«
»Paul!«
»Du verstehst hoffentlich, daß sie dies lediglich aus Mitleid tut«, fuhr Paul fort. »Ist es nicht seltsam, wie oft wir vergessen, daß Mitleid und Grausamkeit einander so ähnlich sind?«
Jessica starrte ihren Sohn an. Die unerwartete Veränderung schockierte sie. Ist der Tod seines Kindes daran schuld? fragte sie sich. Dann sagte sie: »Die Menschen erzählen sich seltsame Geschichten über dich, Paul. Sie behaupten, du hättest alle Kräfte der Legende, daß man nichts vor dir verbergen könne, daß du alles siehst, was anderen verborgen bleibt.«
»Sollte eine Bene Gesserit solche Fragen stellen?« erwiderte Paul.
»An allem, was du bist, bin ich nicht unschuldig«, sagte Jessica. »Du solltest also nicht …«
»Wie würde es dir gefallen, Milliarden und Abermilliarden von Leben zu leben?« entgegnete Paul. »Sie würden eine ungeheure Sammlung von Legenden für dich mitbringen. Denk nur an die unschätzbaren Erfahrungen und die Weisheit, die sie mit sich bringen würden! Aber Weisheit kühlt die Liebe ab, nicht wahr? Und umgibt jedweden Haß mit einem neuen Kleid. Wie kann man sagen, was Unbarmherzigkeit ist, ehe man nicht alle Tiefen der Grausamkeit und des Mitleids ausgelotet hat? Du solltest mich fürchten, Mutter, denn ich bin der Kwisatz Haderach.«
Jessica schluckte. Ihre Kehle war wie ausgedörrt. Plötzlich sagte sie: »Es gab einmal eine Zeit, da hast du mich wegen dieser Tatsache abgelehnt.«
Paul erwiderte kopfschüttelnd: »Ich bin jetzt nicht mehr in der Lage, irgend etwas abzulehnen.« Er sah ihr in die Augen. »Der Imperator und seine Leute werden bald kommen. Man wird sie jeden Moment ankündigen. Bleib bei mir. Ich möchte sie im klarsten Licht sehen. Meine zukünftige Braut wird ebenfalls unter ihnen sein.«
»Paul!« keuchte Jessica. »Begehe nicht den gleichen Fehler wie dein Vater!«
»Sie ist eine Prinzessin«, erwiderte Paul. »Sie ist der Schlüssel zu meinem Thron, und das ist alles, was sie jemals sein wird. Ein Fehler? Glaubst du, weil ich das bin, was du aus mir gemacht hast, hätte ich keinerlei Rachegefühle?«
»Auch den Unschuldigen gegenüber?« fragte Jessica und dachte: Er darf nicht die gleichen Fehler begehen wie ich.
»Es gibt keine Unschuldigen mehr«, sagte Paul.
»Dann erzähle das Chani«, meinte Jessica und deutete auf den Gang, der hinter ihnen lag.
Chani betrat von dort aus die Große Halle. Sie bewegte sich zwischen den Wächtern, als sei sie sich ihrer gar nicht bewußt, hatte die Kapuze zurückgeschlagen und ging mit gläsernen, zerbrechlich wirkenden Schritten durch den Raum, wo sie neben Jessica stehenblieb.
Paul sah, daß sie geweint hatte. Sie gibt Wasser für die Gefallenen. Traurigkeit übermannte ihn, aber er war unfähig, ein Wort des Trostes zu sagen.
»Er ist tot, Geliebter«, sagte sie. »Unser Sohn ist tot.«
Sich selbst nur mühsam unter Kontrolle haltend, stand Paul auf. Er berührte ihre Wangen mit der Hand und fühlte die Feuchtigkeit der noch nicht getrockneten Tränen. »Wir haben ihn verloren«, sagte er leise, »aber du wirst anderen Söhnen das Leben schenken. Es ist Usul, der dir dies verspricht.« Er schob sie behutsam fort und winkte Stilgar.
»Muad'dib?« sagte der Mann.
»Der Imperator und seine Leute werden das Schiff verlassen«, erklärte Paul. »Ich werde hierbleiben. Die Gefangenen werden in der Mitte des Raums versammelt und dort bewacht. Jeder einzelne wird sich mindestens zehn Meter von mir entfernt halten, es sei denn, ich entscheide anders.«
»Wie du befiehlst, Muad'dib.«
Als Stilgar ging, um seinen Befehl auszuführen, hörte er die anderen Fremen murmeln: »Hast du das gesehen? Er wußte es! Obwohl ihm niemand davon erzählt hat, weiß er es!«
Jetzt konnte man die Ankunft des Imperators und seines Gefolges bereits hören. Die Sardaukar, die ihn umgaben, marschierten mit kräftigen Schritten, um sich selbst Mut zu machen. Am Eingang des Hauses wurden Stimmen laut. Gurney Halleck trat ein und ging auf Stilgar zu, um einige Worte mit ihm zu wechseln. Dann ging er auf Paul zu und maß ihn mit einem seltsamen Blick.
Werde ich auch Gurney verlieren? fragte sich Paul. Wird auch er sich wie Stilgar entwickeln? Werde ich einen Freund verlieren und statt dessen einen Untertan gewinnen?
»Sie haben keinerlei Waffen bei sich«, sagte Gurney. »Ich habe mich selbst davon überzeugt.« Er schaute sich um und traf Pauls Blick. »Feyd-Rautha Harkonnen befindet sich unter ihnen. Soll ich ihn von den anderen trennen?«
»Nein.«
»Es sind auch einige Vertreter der Gilde dabei, die alle möglichen Privilegien fordern und sogar mit einem Embargo gegen Arrakis drohen. Ich habe ihnen versprechen müssen, ihre Botschaft zu übermitteln.«
»Laß sie nur drohen.«
»Paul«, zischte Jessica, die jetzt hinter ihm stand. »Er spricht von der Gilde!«
»Ich werde der Gilde bald alle Zähne ziehen«, erwiderte Paul.
Er dachte kurz über die Organisation nach, die bereits seit so langer Zeit existierte, daß sie nur noch ein Parasitendasein führte. Sie war unfähig, zu erkennen, wie sehr sie das Leben benötigte, das sie am Leben erhielt. Die Gilde hatte es niemals nötig gehabt, zur Waffe zu greifen … und jetzt, wo es keinen anderen Ausweg mehr für sie gab, mußte sie feststellen, daß sie unfähig war, sich zur Wehr zu setzen. Allein die Tatsache, daß sie Arrakis nicht von Anfang an allein ausgebeutet hatte, zeigte ihre Blindheit. Die Gilde dachte nicht an die Zukunft und das von ihren Navigatoren so dringend gebrauchte Gewürz. Die Quelle war da, und sie hatte lange davon profitiert. Offenbar hatte sie angenommen, daß, wenn sie einmal versiegte, anderswo eine neue aufgetan werden konnte.
Es war die Schuld der Navigatoren, die die Gilde in diese mißliche Lage gebracht hatte. Die kurzweiligen hellseherischen Fähigkeiten dieser Männer, die dazu dienten, ein Raumschiff gut und schnell durch den Weltraum zu führen, reichte nicht aus, um die Gefahren der Zukunft zu erkennen. Und so hatten die Navigatoren ihre eigene Organisation unbewußt in die Stagnation gesteuert.
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