Während sich der Wurm weiterbewegte, musterte Stilgar Paul. Und Paul erkannte, daß der Mann diesen Augenblick bereits vorausgesehen hatte.
Er hatte die Berichte, daß die jungen Frauen ungeduldig werden, ebenfalls gehört, dachte Paul.
»Bestehst du auf einer Versammlung der Führer?« fragte Stilgar.
Die Augen der jungen Männer des Trupps wandten sich ihnen zu. Sie schwiegen, während sie sich fortbewegten, aber sie hörten ihren Worten zu. Paul sah die Anzeichen der Unruhe in Chanis Blick. Sie schaute auf Stilgar, der ihr Onkel war, zu Paul-Muad'dib, ihrem Gefährten.
»Du kannst nicht erraten, was ich möchte«, sagte Paul.
Und er dachte: Ich kann jetzt nicht mehr zurück. Ich muß die Kontrolle über diese Leute behalten.
»Am heutigen Tage«, sagte Stilgar mit kalter Formalität in der Stimme, »bist du der Mudir. Wie wirst du diese Macht einsetzen?«
Wir brauchen Zeit, um uns zu entspannen und Zeit zu kühler Reflexion, dachte Paul.
»Wir werden nach Süden gehen«, sagte er.
»Selbst dann, wenn ich, wenn der Tag zu Ende geht, sage, daß wir nach Norden zurückkehren?«
»Wir werden nach Süden gehen«, wiederholte Paul.
Ein Zeichen unendlicher Würde schien Stilgar zu umgeben, als er seine Robe enger um die Schultern zog. »Dort wird eine Versammlung stattfinden«, sagte er. »Ich werde die anderen benachrichtigen lassen.«
Er denkt, daß ich ihn herausfordern will, dachte Paul. Und er weiß, daß er sich nicht gegen mich behaupten kann.
Er blickte nach Süden, fühlte, wie der Wind über seine Wangen strich, und dachte über die Notwendigkeiten nach, die seine Entscheidungen beeinflußten.
Niemand kann sich das vorstellen, dachte er.
Nichts würde ihn von seinem Weg abbringen können. Er mußte auf der Zentrallinie des Zeitsturms bleiben, der sich in der Zukunft vor ihm ausbreitete. Irgendwo dort in der Ferne würde es eine Möglichkeit geben, den Knoten zu durchschlagen. Aber er mußte auf der Linie bleiben, bis der günstige Augenblick sich ankündigte.
Ich werde ihn nicht herausfordern, wenn es einen anderen Weg gibt, dachte er. Wenn es eine andere Möglichkeit gibt, den Djihad zu vermeiden …
»Wir werden heute abend unser Lager in den Vogelhöhlen am Fuß des Habbanya-Rückens aufschlagen«, sagte Stilgar und hielt sich mit einem Haken an der Oberfläche des Bringers fest. Mit der freien Hand deutete er auf eine niedrige Felswand, die sich vor ihnen aus der Wüste erhob.
Paul besah sich die Klippen, große Erhebungen, die die Wüste wellenförmig durchzog. Kein Grün, kein Farbtupfer durchbrach die Starre des Horizonts. Jenseits der Felsen erstreckte sich der Weg in die südliche Wüste hinein — ein Weg von mindestens zehn Tagen und Nächten, auch wenn sie den Bringer noch so schnell antrieben.
Zwanzig Plumpser.
Der Weg lag weitab aller Harkonnen-Patrouillen. Und er wußte, wie das Land dort unten sein würde. Er hatte es oft in seinen Träumen gesehen. Eines Tages, als sie gegangen waren, hatte sich die Farbe des Horizonts verändert. Aber die Veränderung war so geringfügig gewesen, daß ihm klargeworden war, daß sie nicht wirklich war, sondern eine Projektion seiner Hoffnungen. Dahinter vermutete er den neuen Sietch.
»Ist Muad'dib mit meiner Entscheidung einverstanden?« fragte Stilgar. Obwohl der Sarkasmus, der in seiner Stimme lag, kaum hörbar war, hatten die Ohren der Fremen ihn aufgeschnappt und sahen nun Paul an; warteten auf seine Reaktion.
»Als wir die Kommandos der Fedaykin aufstellten«, erwiderte Paul gelassen, »hat Stilgar meinen Treueschwur gehört. Meine Todeskommandos wissen, daß ich das ehrlich meinte. Und jetzt zweifelt Stilgar daran?«
Der Schmerz in Pauls Stimme war unüberhörbar. Stilgar hörte ihn ebenfalls und löste seinen Schleier.
»Usuls Worten würde ich niemals mißtrauen, denn er gehört zu meinem Sietch«, erwiderte er. »Aber du bist Paul-Muad'dib, der Herzog Atreides — und der Lisan al-Gaib, die Stimme der Außenwelt. Diese Männer kenne ich noch nicht.«
Paul wandte sich ab, um zuzusehen, wie sich vor ihnen der Habbanya-Rücken aus der Wüste erhob. Der Bringer, auf dem sie saßen, schien immer noch stark und willig zu sein. Paul zweifelte nicht daran, daß er sie zweimal so weit würde tragen können wie jeder andere Wurm, den die Fremen je geritten hatten. Er wußte es. Ein gewaltiges Tier wie dies hatte es in den Geschichten, die man den Kindern erzählte, noch nie gegeben. Es war der Stoff für eine neue Legende.
Eine Hand berührte seine Schulter.
Paul drehte den Kopf, folgte dem Arm bis zu Stilgars Gesicht mit den dunklen Augen, die beinahe unter der Kapuze verborgen lagen.
»Mein Vorgänger im Sietch Tabr«, sagte Stilgar, »war mein Freund. Wir haben gemeinsam die Gefahren überstanden. Er schuldete mir sein Leben mehrere Male. Und ich schuldete ihm das meine.«
»Ich bin ebenfalls dein Freund, Stilgar«, sagte Paul.
»Niemand bezweifelt das«, erwiderte Stilgar. Er zog seinen Arm zurück und zuckte die Achseln. »So ist es eben.«
Paul wurde klar, daß Stilgar zu sehr den Lebensgewohnheiten der Fremen unterworfen war, um sich andere Alternativen auch nur vorstellen zu können. Es war unter diesen Leuten üblich, die Führergewalt aus den Händen des Vorgängers zu empfangen, nachdem man ihn besiegt hatte. Starb ein Führer in der Wüste, kämpften die stärksten Männer des Stammes um seine Nachfolge. Auf diese Art war Stilgar zu einem Naib herangewachsen.
»Wir sollten diesen Bringer im tiefen Sand zurücklassen«, sagte Paul.
»Ja«, stimmte ihm Stilgar zu. »Von hier aus können wir zu der Höhle gehen.«
»Wir haben ihn jetzt so lange benutzt, daß er sich einen oder zwei Tage eingraben und verschnaufen wird.«
»Du bist der Mudir heute«, sagte Stilgar. »Du brauchst uns nur zu sagen, wann wir …«
Er brach abrupt ab und starrte auf den östlichen Himmel.
Paul wirbelte herum. Die blaue Färbung seiner Augen, die das Gewürz hervorgerufen hatte, ließ den Himmel im ersten Moment dunkler erscheinen als er war.
Ornithopter!
»Ein kleiner Thopter«, sagte Stilgar.
»Könnte ein Scout sein«, meinte Paul. »Glaubst du, daß er uns gesehen hat?«
»Auf diese Entfernung sieht er höchstens den Wurm«, gab Stilgar zurück. Er winkte den anderen mit der Linken zu. »Alles runter. Runter in den Sand!«
Die Männer glitten an den Seiten des Wurms hinab, sprangen in den Sand. Chani folgte ihnen. Plötzlich war er mit Stilgar allein auf dem Rücken.
»Ich war als erster oben und gehe als letzter hinunter«, sagte Paul.
Stilgar nickte und ließ sich mit den Haken an der Seite in die Wüste hinab. Paul wartete, bis er sicher war, daß die anderen sich genügend entfernt hatten. Dann löste er seine Haken. Das war der gefährlichste Augenblick.
Von den ihn steuernden Haken befreit, begann der Wurm sich augenblicklich einzugraben. Paul rannte leichtfüßig über seinen langen Rücken dahin, wartete einen günstigen Moment ab und sprang.
Er landete glücklich, war sofort wieder auf den Beinen und rannte auf den Kamm der nächsten Düne zu, so wie man es ihm beigebracht hatte. Er warf sich über den Hügelrücken und verbarg sich unter einer Kaskade von Sand.
Und jetzt hieß es abwarten.
Vorsichtig wandte er sich um, lüftete die Robe und sah einen Ausschnitt des Himmels. Auch die anderen starrten nach oben.
Bevor er den Thopter sah, hörte er den Flügelschlag des Gefährts. Die Düsen gaben ein Geräusch von sich, das einem entfernten Flüstern ähnelte. Er überquerte den Abschnitt, in dem sie sich befanden und drehte dann in einem weiten Kreis auf den Bergrücken zu.
Paul stellte fest, daß die Maschine keinerlei Insignien trug.
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