Er schlug sie mit der einen, dann mit der anderen Hand. Ihre Gesichtsmuskeln entspannten sich und begannen zu zucken. Dann brach sie zusammen und streckte haltsuchend die Hände nach ihm aus - nicht nach ihm speziell, nach irgend jemandem. Er nahm sie sanft in die Arme und wiegte sie wie einen Säugling. Sie zitterte unkontrolliert und begann zu schluchzen, ein sanftes, leises Wimmern.
»Ich werde mal eine Kanne Tee machen«, sagte Jürgens, »und das Feuer neu aufschichten. Sie braucht jetzt Wärme, innerlich und äußerlich.«
»Wo bin ich?« flüsterte sie.
»Bei uns. Sie sind in Sicherheit.«
»Edward?«
»Ja, Edward und Jürgens. Er macht gerade Tee für uns.«
»Ich bin aufgewacht, und da haben Sie sich über mich gebeugt und mich angesehen.«
»Ruhig«, sagte er, »ganz ruhig sein. Entspannen Sie sich! Sie können uns später alles erzählen. Geht es Ihnen jetzt besser?« »Ja, ich bin in Ordnung«, antwortete sie.
Sie schwieg, und während er sie weiter in seinen Armen hielt, spürte er, wie sich ihre Verkrampfung langsam löste. Schließlich richtete sie sich auf und machte sich von ihm los. Sie sah ihm in die Augen.
»Es war furchtbar«, sagte sie ruhig. »Ich habe noch nie im Leben eine solche Angst gehabt.«
»Es ist jetzt vorbei. Was war es denn, ein Alptraum?« »Nein, es war kein Traum. Sie waren wirklich da, oben am Himmel, und haben sich zu mir herabgebeugt. Helfen Sie mir aus dem Schlafsack. Ich will mich ans Feuer setzen. Jürgens macht Tee, sagten Sie?«
»Schon fertig«, sagte Jürgens. »Wenn ich mich recht entsinne, dann nehmen Sie zwei Löffel Zucker.« »Ja, richtig«, sagte sie, »zwei Löffel.«
»Möchten Sie auch eine Tasse?« wandte sich Jürgens an Lansing.
»Gern«, sagte Lansing.
Lansing und Mary setzten sich nebeneinander ans Feuer; Jürgens hockte ihnen gegenüber. Die Zweige, die Jürgens frisch aufgeschichtet hatte, fingen langsam Feuer. Dann loderten die Flammen hell auf. Schweigend tranken sie ihren Tee.
»Ich bin keine von diesen labilen, kapriziösen Frauen«, begann Mary schließlich. »Das ist Ihnen doch klar?«
Lansing nickte. »Ja, natürlich weiß ich das. Sie sind zäh, zäh wie Leder.«
»Ich wachte auf«, sagte Mary. »Es war ein angenehmes, sanftes Erwachen, nicht, wie wenn man plötzlich aus dem Schlaf gerissen wird. Ich lag auf dem Rücken, so daß ich, als ich aufwachte, direkt in den Himmel sah.«
Sie trank einen Schluck Tee und wartete, als müsse sie sich gegen den Fortgang der Erzählung wappnen.
Sie stellte die Tasse auf dem Boden ab und wandte sich Lansing zu.
»Es waren drei«, sagte sie. »Ich glaube es jedenfalls. Es könnten auch vier gewesen sein. Drei Gesichter, andere Körperteile waren nicht zu sehen. Nur Gesichter. Große Gesichter. Größer als menschliche Gesichter, obwohl sie mit Sicherheit menschlich waren. Sie sahen menschlich aus. Drei große Gesichter, so groß, daß sie den halben Himmel ausfüllten, sahen auf mich herab. Und ich dachte, wie blöd von dir, daß du dir einbildest, Gesichter zu sehen. Ich zwinkerte ein paarmal, weil ich zu halluzinieren glaubte. Aber sie verschwanden nicht, im Gegenteil, als ich die Augen wieder öffnete, konnte ich sie nur noch besser sehen.«
»Ruhig«, mahnte Lansing. »Lassen Sie sich Zeit!«
»Ich bin ruhig, verdammt noch mal. Sie denken, ich spinne, stimmt's?«
»Nein, bestimmt nicht«, erwiderte er. »Wenn Sie sagen, Sie haben sie gesehen, dann haben Sie sie auch gesehen. Zäh wie Leder, erinnern Sie sich?«
Jürgens beugte sich vor und goß ihnen Tee nach. »Danke, Jürgens«, sagte sie. »Sie machen einen guten Tee.« Dann fuhr sie fort: »An den Gesichtern war nichts Ungewöhnliches oder Grauenerregendes. Sie waren ganz normal, wenn ich es mir recht überlege. Eines hatte einen Bart. Das war ein junges Gesicht, die anderen beiden waren alt. Wie gesagt, an den Gesichtern war nichts außergewöhnlich - zunächst jedenfalls nicht. Doch dann spürte ich es plötzlich - es war die Art, wie sie mich anschauten, so gespannt und interessiert. So wie einer von uns gucken würde, wenn ihm ein scheußliches Insekt über den Weg liefe, wenn er auf eine widerliche neue Lebensform treffen würde. Nein, noch nicht einmal das - sie blickten auf mich herab, als sei ich ein Ding, ein Gegenstand. Am Anfang glaubte ich in ihrem Blick Anteilnahme lesen zu können, doch dann erkannte ich, daß es keine war. Es war eine Mischung aus Abscheu und Mitleid, und das Mitleid verletzte mich am meisten. Ich konnte förmlich ihre Gedanken lesen. Mein Gott, dachten sie, seht euch das an! Und dann - und dann.«
Lansing schwieg. Er spürte, daß jetzt nicht der richtige Augenblick war, etwas zu sagen.
»Und dann wandten sie sich ab. Sie gingen nicht fort, sie wandten nur die Köpfe ab, als sei ich es nicht wert, von ihnen beachtet zu werden, als stünde ich unterhalb von Verachtung und Mitleid. Als sei ich ein Nichts, als sei - wenn man es verallgemeinert - die ganze menschliche Rasse ein Nichts. Sie verurteilten uns zur Nichtigkeit, obwohl verurteilen ein zu starkes Wort ist. Wir wären ihrer Verurteilung gar nicht würdig - eine niedere Lebensform, über die man nicht weiter nachdenkt.«
Lansing stieß den Atem aus. »Mein Gott!« sagte er. »Kein Wunder.«
»Genau, kein bißchen wunderbar. Ach Edward, das hat mich alles sehr mitgenommen. Vielleicht hat mein Verhalten.«
»Lassen wir das Verhalten beiseite. Meines wäre genauso richtig oder falsch gewesen.«
»Können Sie sich vorstellen, was sie sind? Nicht wer, sondern was?«
»Ich weiß es nicht. Ich möchte noch nicht einmal Vermutungen darüber anstellen.«
»Aber es war keine Vision.«
»Sie haben keine Visionen«, erwiderte er. »Sie sind eine klar denkende Ingenieurin, eine Realistin. Alles muß Hand und Fuß haben. Zwei und zwei sind vier, nicht fünf oder drei.« »Danke«, sagte sie.
»Später einmal werden wir uns stundenlang den Kopf darüber zerbrechen, was diese Gesichter gewesen sein können. Aber jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt. Sie haben noch nicht genügend Abstand zu der Sache.«
»Jemand anderer«, begann Mary wieder, »würde Ihnen sagen, daß es Götter waren. Sandra würde das bestimmt behaupten, und ein Primitiver würde Ihnen das gleiche erzählen. Der Pastor würde sagen, das waren Teufel, die sich seine Seele schnappen wollten. Ich will Ihnen eines sagen, sie hatten die Arroganz, die Selbstsicherheit und Gleichgültigkeit von Göttern, aber es waren keine Götter.«
»Wir Roboter haben einmal geglaubt, die Menschen wären Götter«, warf Jürgens ein. »In gewissem Sinne waren sie das auch. Schließlich haben sie uns erschaffen. Aber wir sind jetzt darüber hinaus. Irgendwann haben wir erkannt, daß sie nichts weiter sind, als eine andere Lebensform.«
»Sie brauchen mich nicht zu trösten«, sagte Mary. »Ich habe Ihnen ja bereits gesagt, daß es keine Götter waren. Ich weiß das natürlich nicht mit Bestimmtheit, aber ich glaube, es waren keine.«
Mary und Lansing stiegen nicht wieder in ihre Schlafsäcke. Sie hätten jetzt sowieso nicht schlafen können, und die Morgendämmerung war nicht mehr fern. Sie saßen beim Feuer und plauderten jetzt entspannt und ruhig. Nach einer Weile schlug Jürgens vor, Frühstück zu machen. »Wie war's mit Speckpfannkuchen?« fragte er. »Das hört sich gut an«, sagte Lansing.
»Wir werden sehr zeitig frühstücken«, sagte der Roboter, »und können früh aufbrechen. Vielleicht werden wir heute die Stadt erreichen.«
Aber sie erreichten die Stadt an diesem Tag nicht mehr, sondern erst am Spätnachmittag des nächsten.
Sie erblickten sie, nachdem sie dem kurvenreichen Pfad auf den Gipfel eines großen Hügels gefolgt waren. Mary sog die Luft ein.
»Da ist sie. Aber wo sind denn die Menschen?«
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