Lansing hielt die Krücke hoch, an der er arbeitete. »Es wird einige Zeit dauern, bis er sich an das Ding gewöhnt hat. Es taugt nicht viel. Ich hätte ihm gern eine bessere Krücke gezimmert, aber ohne Werkzeug und geeignetes Material ist das nicht möglich. Er wird vorankommen, aber nur sehr langsam. Wir werden uns seinem Tempo anpassen müssen. Aber soviel ich weiß, haben wir es ohnehin nicht eilig.«
»Das könnte stimmen«, erwiderte der General. »Doch wir wissen nichts über die Bedingungen dieser Expedition. Vielleicht gibt es Zeitlimits, an die wir uns halten müssen.« »Bevor wir überhaupt etwas Sinnvolles unternehmen können«, warf Mary ein, »müssen wir unbedingt herausbekommen, warum wir hier sind. Wir dürfen nichts unbeachtet lassen, das uns einen Hinweis geben könnte. Also müssen wir so viel Zeit mit dem Würfel zubringen, bis wir uns überzeugt haben, daß er uns nichts zu bieten hat.«
»Ich war von Anfang an der Ansicht, daß wir in der Stadt eher mit Informationen rechnen können als hier im Ödland«, entgegnete der General. »In der Stadt werden wir Leute treffen, mit denen wir reden können.«
»Wenn wir uns überhaupt mit ihnen verständigen können«, wandte Mary ein. »Wenn sie bereit sind, mit uns zu reden, und uns nicht sofort aus der Stadt jagen oder ins Gefängnis werfen.« »Ja, auch damit müssen wir rechnen«, murmelte der General. »Ich meine, wir sollten uns jetzt zur Ruhe begeben«, schlug der Pfarrer vor. »Wir haben einen langen, harten Tag vor uns und werden unseren Schlaf sehr nötig haben.«
»Ich melde mich freiwillig für die erste Wache«, rief der General. »Danach übernehmen Sie, Herr Pfarrer, und Mr. Lansing den Rest der Nacht. Sie können es sich selbst einteilen.« »Es ist nicht nötig, daß jemand von Ihnen Wache hält«, sagte Jürgens. »Ich will diese Aufgabe gern übernehmen. Ich schlafe niemals. Ich verspreche Ihnen, scharf achtzugeben. Haben Sie Vertrauen zu mir!«
11
Nach dem Frühstück gingen sie wieder zu dem Würfel. Das Gras war noch feucht vom Tau. Beim ersten Morgenlicht hatte Jürgens sie aufgeweckt. Da dampften bereits Kaffee und Haferbrei.
In den flach einfallenden Strahlen der Morgensonne zeigte der Würfel nicht das gleiche Blau wie im vollen Licht des vergangenen Nachmittags. Jetzt ähnelte er eher einem Opal. Er wirkte fast transparent und seltsam körperlos. »Jetzt sieht er tatsächlich so aus, als ob er aus Porzellan wäre«, stellte Sandra fest. »Schon gestern hat er mich an Porzellan erinnert, aber heute habe ich keine Zweifel mehr: Er ist aus Porzellan!«
Der Pastor hob einen Stein vom Boden auf und schleuderte ihn gegen den Würfel. Der Stein sprang in weitem Bogen zurück. »Das ist kein Porzellan«, sagte er.
»Es war keine gute Idee, das auf diese Weise herauszufinden!« fuhr Lansing ihn an. »Vielleicht wird sich der Würfel daran erinnern, wer ihn mit einem Stein beworfen hat.«
»Das klingt, als hielten Sie den Würfel für lebendig«, sagte Mary.
»Ich möchte nicht darauf wetten, daß er es nicht ist.« »Wir verschwenden nur unsere Zeit, wenn wir hier herumstehen und schwatzen«, murrte der Pastor. »Ich bin dagegen, den Würfel zu untersuchen, denn ich halte ihn nach wie vor für etwas Böses. Wenn Sie sich aber nun einmal anders entschieden haben, dann wollen wir uns an die Arbeit machen. Je schneller wir das hinter uns bringen, desto eher können wir uns anderen Dingen zuwenden.«
»Das stimmt«, pflichtete ihm der General bei. »Wir wollen zum Wäldchen zurückgehen und uns ein paar Stecken zuschneiden. Damit können wir den Sand vor unseren Füßen untersuchen.« Lansing ging nicht mit dem General und dem Pfarrer. Er blieb bei Jürgens, der seine Krücke ausprobieren wollte. Der Roboter stellte sich dabei äußerst ungeschickt an, aber nach einiger Zeit konnte Lansing erste Fortschritte beobachten. Zweimal stürzte Jürgens ins Gras, und zweimal half ihm Lansing beim Aufstehen. »Lassen Sie mich allein«, bat Jürgens schließlich. »Sie machen mich nervös, wenn Sie ständig voller Hilfsbereitschaft in meiner Nähe stehen. Ich weiß Ihre Anteilnahme zu schätzen, aber hiermit muß ich allein und auf meine Art fertig werden. Wenn ich falle, muß ich wieder aus eigener Kraft auf die Beine kommen.«
»Hm«, machte Lansing» »mir scheint fast, Sie haben recht.« Mit diesen Worten entfernte er sich von dem Roboter und begann einen Rundgang um den Würfel, wobei er sorgsam darauf achtete, nicht aus Versehen auf den Sandstreifen zu treten. Er sah sich die blauen Wandflächen sehr genau an. Er hoffte, irgendeine Nahtstelle, eine Unregelmäßigkeit zu entdecken, die bedeutungsvoll sein könnte. Er sah nichts. Die Wände erhoben sich glatt und ohne die geringste Unterbrechung. Sie schienen aus einem Stück zu bestehen. Hin und wieder warf er Jürgens einen heimlichen Blick zu. Der Roboter tat sich sehr schwer, aber er gab nicht auf. Wenn er stürzte, zog er sich sofort an der Krücke wieder hoch und humpelte weiter. Von den anderen war niemand zu sehen. Der General und der Pastor waren im Lager und schnitten Stöcke; ab und zu konnte man das Geräusch der Campingbeile hören. Mary und Sandra befanden sich wahrscheinlich auf der anderen Seite des Würfels.
Lansing blieb stehen und schaute an dem Würfel hoch. Zahllose Fragen schossen ihm durch den Kopf: Konnte das Gebilde eine Wohnung sein, ein Gebäude, das eine Familie unbekannter Wesen beherbergte? Befanden sie sich vielleicht in diesem Augenblick darin, gingen ihren Alltagsverrichtungen nach und warfen gelegentlich einen Blick aus dem Fenster (den Fenstern?) auf die merkwürdigen, verstörten, zweibeinigen Kreaturen, die draußen um ihr Haus schlichen? Oder war es vielleicht ein Wissensspeicher, eine Bibliothek, ein Hort der Fakten und Gedanken, die dem menschlichen Verstand für immer fremd bleiben würden? Vielleicht mochten diese Gedanken nicht einmal fremd sein, vielleicht hatte sie ein Zweig der menschlichen Rasse vor vielen Jahrtausenden dort niedergelegt. Das wäre durchaus nicht unmöglich, dachte Lansing. In der vergangenen Nacht hatte er mit Jürgens über die Zeitungleichheit in alternativen Welten gesprochen. Nach allem, was Jürgens ihm erzählt hatte, war es offensichtlich gewesen, daß der Roboter aus einer Zeit kam, die viele tausend Jahre in der Zukunft lag. Oder war gar der Würfel selbst ein Gebilde der Zeit, ein Ding, das zu einem anderen Zeitkontinuum gehörte? Lansing verwarf diesen Gedanken wieder. Schließlich war der Würfel zu deutlich zu sehen, so klar und deutlich, wie man es sich nur wünschen konnte.
Lansing setzte seinen Rundgang um den Würfel fort. Die Sonne war ein Stück am Himmel hinaufgewandert, der Tag versprach schön zu werden. Inzwischen waren die Tautropfen verdunstet. Der Himmel war tiefblau, von keiner Wolke getrübt. Der General und der Pastor kamen den Weg entlanggestapft. Beide trugen sie einen langen Stab über der Schulter, den sie aus jungen Schößlingen geschnitten hatten. Als sie Lansing eingeholt hatten, blieben sie stehen.
»Sind Sie einmal ganz herumgegangen?« fragte der General. »Ja«, antwortete Lansing. »Ich kann Ihnen versichern, er sieht überall gleich aus. Nirgendwo der geringste Unterschied.« »Wir müssen dichter heran«, behauptete der Pastor. »Vielleicht kann man aus der Nähe etwas entdecken, das von hier aus nicht zu sehen ist. Es ist immer gut, sich ein Ding genau anzusehen.«
»Da haben Sie recht«, stimmte ihm Lansing zu. »Warum besorgen Sie sich nicht auch einen Stecken?« fragte der General. »Wenn wir uns zu dritt an die Arbeit machen, finden wir eventuell mehr heraus.«
»Nein, das werde ich bleibenlassen«, entgegnete Lansing. »Ich halte es für Zeitverschwendung.«
Die beiden anderen sahen ihn einen Augenblick lang schweigend an, dann wandten sie sich ab.
»Ich schlage vor, daß wir folgendermaßen vorgehen«, sagte der General zum Pastor. »Wir halten uns in einem Abstand von vier Metern voneinander. Dann untersuchen wir den Boden vor unseren Füßen und die Sandfläche zwischen uns. Wenn sich etwas unter dem Sand verbirgt, dann wird es die Stöcke und nicht uns angreifen.«
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