»Ach nein, vielen Dank«, wehrte Jürgens ab. »Ich muß ein wenig nachdenken. Dazu brauche ich Ruhe.«
1O
Lansing schnitzte an dem gegabelten Ast, den er abgeschnitten hatte. Er wollte eine Krücke für Jürgens herstellen.
Der Pfarrer erhob sich von seinem Platz, um ein wenig Holz aufs Feuer zu werfen.
»Wo ist der General?« fragte er.
»Er ist zu Jürgens hinübergegangen«, antwortete Mary. »Er will ihn herholen.«
»Wozu tut er das? Warum läßt er ihn nicht da, wo er ist?« »Weil es nicht richtig wäre«, erwiderte Mary. »Jürgens sollte hier bei uns sein.«
Der Pastor erwiderte nichts und setzte sich wieder hin. Sandra ging um das Feuer herum und blieb neben Mary stehen. »Irgend etwas schleicht da draußen umher«, sagte sie. »Ich habe es schnüffeln gehört.«
»Ein harmloses Tier«, erklärte Lansing. »Wenn man irgendwo ein Lagerfeuer entfacht, tauchen immer ein paar Tiere auf. Sie werden von ihrer Neugierde getrieben, wollen wissen, was da vor sich geht. Manche hoffen auch, daß für sie ein Happen abfällt.«
»Es macht mich nervös«, sagte Sandra.
»Unsere Nerven sind alle ein wenig angespannt«, bemerkte Mary. »Dieser Würfel.«
»Wir sollten jetzt nicht an den Würfel denken«, schlug Lansing vor. »Morgen, bei Tageslicht, werden wir ihn uns noch einmal genauer ansehen.«
»Ich kann darauf verzichten«, sagte der Pastor. »Ich bin sicher, er ist eine Ausgeburt des Bösen.«
Der General trat in das Licht des Feuers. Mit einem Arm stützte er den humpelnden Jürgens.
»Was habe ich da eben vom Bösen gehört?« polterte er.
Der Pastor antwortete nicht. Der General ließ Jürgens zwischen Mary und dem Pfarrer zu Boden gleiten.
»Er kommt kaum von der Stelle«, erklärte der General. »Das Bein ist praktisch nutzlos. Gibt es denn keine Möglichkeit, es besser zu reparieren?«
Mary schüttelte den Kopf. »Ein Teil im Knie ist zerbrochen, und es gibt kein Ersatzteil dafür. Außerdem wurde die gesamte Hüftkonstruktion verbogen. Ich konnte nicht mehr tun, als das Bein so zu versteifen, daß er sich wieder darauf stützen kann. Edward fertigt eine Krücke für ihn an. Vielleicht geht es dann besser.«
Der General setzte sich umständlich neben Lansing auf den Grasboden.
»Ich könnte schwören, daß ich eben jemanden über das Böse schwadronieren hörte«, sagte er.
»Lassen Sie es gut sein«, zischte ihm Lansing zu.
»Sie brauchen sich nicht zwischen den bunten und den schwarzen Rock zu stellen, ehrenwerter Pädagoge«, erklärte der Pastor. »Ich bin dafür, die Sache sofort auszutragen.«
»Also gut, wenn Sie darauf bestehen«, erwiderte Lansing.
»Aber bewahren Sie Ihre guten Manieren dabei!«
»Ich bin ein Gentleman«, schnarrte der General, »und ich kann mich nur wie ein solcher verhalten. Das liegt mir ge-wissermaßen im Blut. Ein Offizier und Gentleman. Das gehört nun einmal zusammen. Unser alberner Freund hier.« Der Pfarrer fiel ihm ins Wort: »Ich habe schlicht behauptet, der Würfel sei etwas Böses. Man kann das als meine persönliche Meinung bezeichnen. Ich bin jedoch darin geübt, solche Dinge zu entdecken, und der General ist es nicht.« »Und wie erkennen Sie das Böse?« wollte der General wissen. »Nun, da ist zunächst einmal der äußere Eindruck als solcher. Dann der Warnstreifen aus Sand. Gute Menschen haben diesen Sandstreifen geschaffen; wir sollten ihnen dafür dankbar sein. Einer von uns war es nicht. Er hat seinen Fehler teuer bezahlen müssen.«
»Es mag ein Warnstreifen sein«, stimmte ihm der General zu, »aber er steckt voller heimtückischer Fallen. In eine ist unser metallener Freund hineingeraten. Wenn meine Einschätzung richtig ist, haben gute Menschen nichts mit der Angelegenheit zu tun. Wenn diejenigen, die den Streifen angelegt haben, tatsächlich guten Willens gewesen wären, hätten sie ihn mit einem Zaun umgeben. Sie, Herr Pfarrer, wollen uns einschüchtern, abschrecken. Wenn Ihnen etwas bedrohlich erscheint, dann bezeichnen Sie es als Werk des Bösen. Das liefert Ihnen eine Entschuldigung, der Sache den Rücken zuzukehren und sich nicht weiter mit ihr zu befassen. Wenn es nach mir geht, dann dringen wir in den Streifen ein. Dabei müßten wir natürlich sehr vorsichtig sein. Wir könnten mit langen Stangen die Fallen aus der Ferne auslösen. So würden wir sie unschädlich machen. Irgend jemand will, daß uns gewisse Dinge über den Würfel verborgen bleiben. Gerade diese Dinge aber könnten von unschätzbarem Wert für uns sein. Darum will ich auf keinen Fall so ohne weiteres von hier fortgehen.« »Genau diese Haltung habe ich von Ihnen erwartet«, sagte der Pastor, »und ich werde mir nicht einfallen lassen, Sie von Ihrem Vorhaben abzubringen. Aber ich betrachte es als meine heilige Pflicht, Sie zu warnen. Man darf sich nicht mit den Mächten des Bösen anlegen.«
»Da schwatzen Sie schon wieder vom Bösen! Was ist denn das Böse, wenn ich fragen darf? Wie würden Sie es definieren?« »Es wäre reine Zeitverschwendung, wenn ich versuchte, es Ihnen zu erklären. Daß Sie diese Frage überhaupt stellen konnten, beweist schon genug!«
»Hat eigentlich irgend jemand genau beobachtet, was geschah, als Jürgens verletzt wurde?« fragte Mary. »Er selbst weiß von nichts. Er hat einen heftigen Schlag verspürt, aber das ist alles, woran er sich erinnert.«
»Also, ich habe nichts bemerkt«, erklärte der Pastor. »Und dort, wo ich stand, hätte ich unbedingt etwas sehen müssen. Dafür kann es nur eine Erklärung geben: Hier waren die Mächte des Bösen am Werk.«
»Ich meine, ich hätte etwas gesehen«, warf Lansing ein. »Allerdings war es so undeutlich, daß ich bisher nicht davon sprechen mochte. Es war nur ein Flimmern, ein Huschen. Für das menschliche Auge fast nicht wahrnehmbar.« »Dieses Gerede von bösen Mächten verstehe ich nicht«, sagte Sandra. »Der Würfel ist wunderschön. So schön, daß man bei seinem Anblick das Atmen vergessen kann. Wie könnte er böse sein?«
»Er hat Jürgens angegriffen«, entgegnete Mary. »Ja, daß weiß ich. Aber obwohl ich es weiß, sehe ich die Schönheit in dem Würfel. Für mich hat er nichts Böses an sich.« »Gut gesagt«, brummelte der General. »So spricht nur eine Dichterin. Wie haben Sie sich bezeichnet? Als Diplompoetin?« »Ja, so sagte ich«, erwiderte Sandra mit leiser Stimme. »Sie können nicht wissen, was mir das bedeutet. Nur wer in meiner Welt lebt, versteht, welche Ehre, ja, welcher Ruhm darin liegt, das offizielle Diplom als Poet zu empfangen. Es gibt viele Dichter, sehr viele. Sie alle verstehen sich auf ihre Kunst. Aber nur wenige erhalten das Dichterdiplom.« »Ich kann mir eine solche Welt nicht vorstellen«, versetzte der Pastor. »Das muß ein wahres Märchenland sein. Viele gute Worte. aber wenig gute Taten.«
»Mir ist klar, daß Sie sich meine Welt nicht vorstellen können. Sie würden sich dort auch reichlich deplaziert vorkommen.« Danach saßen sie eine Weile schweigend um das Feuer. Plötzlich sagte Sandra: »Da war es wieder. Jemand schleicht um unser Lager. Ich habe es deutlich gehört.«
»Ich höre nichts«, erwiderte der General. »Meine Liebe, ich fürchte, Ihre Phantasie geht mit Ihnen durch. Da draußen ist nichts.«
Wieder versanken sie in Schweigen. Diesmal wurde es vom Pastor gebrochen: »Was werden wir morgen unternehmen?« »Wir schauen uns den Würfel an«, antwortete der General. »Wir werden ihn uns genau und aus der Nähe ansehen. Wenn die Untersuchung nichts ergibt, werden wir unseren Weg fortsetzen. Wenn der schmuddelige Wirt nicht gelogen hat, liegt irgendwo vor uns eine Stadt. Ich denke, daß wir in einer Stadt interessantere Dinge finden werden als hier. Wenn es uns wünschenswert erscheint, können wir später immer noch zu dem Würfel zurückkehren.«
Der Pastor zeigte auf Jürgens und fragte Lansing: »Wird er reisen können?«
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