Irgendwo seitlich war ein Scharren zu hören.
Es waren natürlich die Erwachsenen. Die Tür ließ sich nicht ohne Weiteres öffnen, doch dann floss ein bernsteinfarbener Lichtstreifen über den Boden auf ihn zu. Als Erster trat sein Vater in den Raum, begleitet von vier oder fünf anderen Erwachsenen, die Sky nicht erkannte, große gebückte Gestalten mit Taschenlampen in den Händen. Aschfahle Gesichter, würdevoll wie die Könige im Märchen. Die Luft, die in den Raum strömte, war kälter als sonst — Sky zitterte noch mehr —, und die Erwachsenen hatten Rauchwolken vor dem Mund wie feuerspeiende Drachen.
»Es ist ihm nichts geschehen«, sagte Skys Vater zu einem der anderen Erwachsenen.
»Das ist gut, Titus«, antwortete der andere. »Wir bringen ihn an einen sicheren Ort, dann suchen wir weiter.«
»Schuyler, komm her.« Sein Vater kniete nieder und breitete die Arme aus. »Komm her, mein Junge. Jetzt ist alles gut. Du brauchst keine Angst mehr zu haben. Wie ich sehe, hast du geweint.«
»Clown ist fortgegangen«, brachte Sky heraus.
»Clown?«, fragte einer der anderen.
Sein Vater drehte sich um. »Das Erziehungsprogramm des Kinderzimmers, nicht weiter schlimm. Das war natürlich eine der ersten nicht lebenswichtigen Funktionen, die eingestellt wurden.«
»Mach, dass Clown zurückkommt«, bat Sky. »Bitte.«
»Später«, sagte sein Vater. »Clown… ruht sich nur ein wenig aus. Bis du dich umsiehst, ist er wieder da. Und du, mein Junge, hast jetzt sicher Hunger oder Durst, nicht wahr?«
»Wo ist Mutter?«
»Sie ist…« Sein Vater stockte. »Sie kann jetzt nicht zu dir kommen, Schuyler, aber sie lässt dir sagen, dass sie dich sehr lieb hat.«
Einer von den anderen Männern fasste seinen Vater am Arm. »In der Krippe bei den anderen Kindern ist er bestimmt besser aufgehoben, Titus.«
»Er ist nicht wie die anderen Kinder«, sagte sein Vater.
Jetzt führten sie ihn in die Kälte hinaus. Vor und hinter dem kleinen Lichtkreis, den die Taschenlampen der Erwachsenen erzeugten, lag der Korridor vor dem Kinderzimmer in tiefer Dunkelheit.
»Was ist denn passiert?«, fragte Sky. Erst jetzt wurde ihm klar, dass nicht nur sein eigener Mikrokosmos durcheinander geraten war; auch die Welt der Erwachsenen war von den Ereignissen betroffen. So hatte er das Schiff noch nie erlebt.
»Etwas sehr, sehr Schlimmes«, sagte sein Vater.
Ich wurde jäh aus meinem Traum von Sky Haussmann gerissen. Im ersten Moment glaubte ich mich noch in einem anderen Traum zu befinden, einem Traum, in dem Trauer und Verwirrung eine beängstigend zentrale Rolle spielten.
Dann wurde mir klar, dass es gar kein Traum war.
Ich war hellwach, aber die Hälfte meines Bewusstseins schien noch fest zu schlafen: der Bereich nämlich, der meine Erinnerungen, meine Identität und das irgendwie tröstliche Wissen enthielt, wie ich dahin gekommen war, wo ich mich jetzt befand; alle Fäden also, die mich mit der Vergangenheit verbanden. Mit welcher Vergangenheit? Ich dachte, wenn ich zurück schaute, würde irgendwann das eine oder andere Detail erkennbar werden — ein Name, ein Hinweis auf meine Person —, aber ich bewegte mich wie durch dichten, grauen Nebel.
Immerhin konnte ich noch Dinge benennen; die Sprache hatte ich also nicht verloren. Ich lag auf einem harten Bett unter einer dünnen braunen Wolldecke. Ich fühlte mich wach und ausgeruht — und zugleich vollkommen hilflos. Als ich mich umsah, ›klingelte‹ es nicht; es gab nichts, was mir in irgendeiner Form vertraut gewesen wäre. Ich hielt mir die Hand vor die Augen und studierte das Netz von Adern auf dem Handrücken. Es war mir kaum weniger fremd.
Doch an meinen Traum erinnerte ich mich sehr genau. Er war unglaublich intensiv gewesen; nicht so wie richtige Träume — unzusammenhängend, mit wechselnden Perspektiven und logischen Sprüngen —, sondern wie ein Dokumentarfilm mit strenger Chronologie. Als wäre ich zusammen mit Sky Haussmann auf dem Schiff gewesen, als hätte ich zwar nicht ganz in seiner Haut gesteckt, ihn aber auf Schritt und Schritt verfolgt wie ein Phantom.
Etwas drängte mich, meine Hand umzudrehen.
Auf der Innenfläche prangte ein scharf umgrenzter rostroter Fleck aus geronnenem Blut. Ich untersuchte das Laken, auf dem ich lag, und fand auch dort Blutspritzer. Ich musste längere Zeit geblutet haben, bevor ich aufwachte.
Jetzt schien sich der Nebel an einer Stelle zu verdichten; ich bekam beinahe eine Erinnerung zu fassen.
Ich stieg aus dem Bett und sah mich um. Ich war nackt. Ein Raum mit rauen Wänden — nicht aus Fels gehauen, eher wie mit Lehm beworfen und nach dem Trocknen mit blendend weißer Stuckfarbe getüncht. Neben dem Bett standen ein Hocker und ein Schränkchen, beides aus einem Holz, das ich nicht kannte. Eine kleine braune Vase in einer Nische in der Wand war der einzige Schmuck.
Ich starrte die Vase erschrocken an.
Sie hatte etwas an sich, das mich mit Grauen erfüllte; einem Grauen, das ich sofort als irrational erkannte, ohne mich dagegen wehren zu können. Vielleicht hast du ja einen Hirnschaden davongetragen, sagte ich laut zu mir selbst, du kannst zwar noch sprechen, aber irgendwo im limbischen System oder wo auch immer die Neuerung namens Angst verwaltet wird, die einst für die Säugetiere eingeführt wurde, ist etwas kaputtgegangen. Doch als ich meiner Angst nachspürte, erkannte ich, dass sie gar nicht von der Vase ausgelöst wurde.
Es war die Nische.
Sie war ein Versteck: etwas Entsetzliches lauerte darin. Sobald mir das aufging, drehte ich durch. Mein Herz raste. Ich musste hier raus; weg von diesem Ding, das mir das Blut in den Adern gefrieren ließ, obwohl ich wusste, dass es keinen Grund dafür gab. Der Raum hatte an einer Seite einen offenen Durchgang nach ›draußen‹ — was das auch immer sein mochte.
Ich taumelte ins Freie.
Gras unter meinen Füßen; ich stand auf einem Stück Rasen, feucht und kurz geschoren, auf zwei Seiten von Felsen und Gestrüpp begrenzt. Die Hütte, in der ich aufgewacht war, klebte hinter mir an einem Hang und drohte von Gestrüpp überwuchert zu werden. Dahinter stieg der Hang weiter an, wurde zunehmend steiler, bis er die Senkrechte erreichte, und wölbte sich dann schwindelerregend im Bogen nach vorne, sodass das üppige Grün wie chinesischer Spinat an den Wänden einer Schale klebte. Die Entfernung war schwer zu schätzen, aber der Himmel dieser Welt befand sich wohl ungefähr einen Kilometer über meinem Kopf. Zur vierten Seite hin fiel das Gelände ein wenig ab, um dann jenseits eines winzigen Tales erneut anzusteigen, immer und immer weiter, bis es schließlich die Fläche berührte, die sich hinter mir empor wölbte.
Hinter dem Gestrüpp und den Felsen zu beiden Seiten waren in der Ferne, leicht bläulich und etwas verzerrt durch trübe Luftschichten, die beiden Enden der Welt zu erkennen. Auf den ersten Blick glaubte ich in einem langgestreckten, zylinderförmigen Habitat zu stehen, doch das war nicht der Fall: die Wände strebten an beiden Enden zusammen, das Gebilde hatte also wohl eher die Form einer Spindel: zwei mit der Grundfläche aneinander gesetzte Kegel. Meine Hütte musste sich mehr oder weniger an der breitesten Stelle befinden.
Ich zermarterte mir das Gehirn nach gängigen Habitat-Formen, fand aber nichts bis auf das hartnäckige Gefühl, dass irgendetwas hier nicht stimmte.
Ein grell leuchtendes, blauweißes Filament zog sich der Länge nach durch das ganze Habitat: eine geschlossene Plasma-Röhre, die sich wahrscheinlich dämpfen und abschirmen ließ, wenn man Abendstimmung oder Dunkelheit simulieren wollte. Die Pflanzendecke war mit kleinen Wasserfällen und schroffen Felswänden aufgelockert, ein kunstvolles Arrangement, das an ein japanisches Aquarell erinnerte. Auf der anderen Seite der Welt zogen sich terrassenförmig angelegte Gärten empor; ein Flickenteppich verschiedenster Beete wie eine Pixelmatrix. Hier und dort waren andere Hütten dazwischen gestreut wie weiße Kieselsteine, gelegentlich auch ein größeres Gebäude oder ein ganzes Dorf. Gepflasterte Straßen schlängelten sich um das Tal herum und verbanden die Hütten und Gemeinden miteinander. An den Endpunkten der beiden Kegel lagen die Gebäude näher an der Drehachse des Habitats, dort musste die künstliche Schwerkraft geringer sein. War das vielleicht der Grund, warum man diese Form des Habitats gewählt hatte?
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