Alastair Reynolds - Chasm City

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Tanner Mirabel, einst hochdekorierter Elitesoldat und jetzt Leibwächter im Dienst des Waffenschmugglers Cahuella, macht Jagd auf den reichen Aristokraten Reivich, der für den Tod seines Chefs verantwortlich sein soll. Er hat bereits die Raumstation lokalisiert, in der sich Reivich aufhalten soll, als ein Anschlag auf den Orbitallift verübt wird. Tanner überlebt nur knapp, und durch den Kälteschlaf in seinem Gedächtnis stark beeinträchtigt, findet er sich schließlich in der Umlaufbahn um den Planeten Yellowstone wieder. Er erfährt, dass Reivich offenbar mit dem gleichen Raumschiff nach Yellowstone gekommen ist, doch die Suche nach ihm gestaltet sich von nun an äußerst schwierig — denn die Hauptstadt des Planeten, Chasm City, hat sich durch die geheimnisvolle »Schmelzseuche« in ein gefährliches Labyrinth verwandelt: die ehemaligen High-Tech-Gebäude haben sich zu einem biokybernetischen Netzwerk verbunden, das sich ständig wandelt und immer wieder neue bizarre Formen hervorbringt. Die Seuche ist allerdings nicht das einzige Geheimnis, das mit Chasm City zusammenhängt — auch die Bewohner der Stadt, die ihr Leben mit Hilfe von Nanotechnologie verlängert haben, haben einen Persönlichkeitswandel durchgemacht, der daran zweifeln lässt, ob sie überhaupt noch Menschen sind. Niemand in Chasm City ist das, was er zu sein vorgibt — und auch Tanner muss sich schließlich fragen, ob er noch der Tanner Mirabel ist, als der er auf Yellowstone ankam…

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Alastair Reynolds

Chasm City

Lieber Besucher,

Willkommen im Epsilon Eridani-System!

Trotz allem, was geschehen ist, wünschen wir Ihnen einen angenehmen Aufenthalt hier bei uns. Die vorliegenden Informationen wurden zusammengestellt, um Ihnen in groben Zügen die wichtigsten Ereignisse in unserer jüngsten Geschichte zu erklären. Das Dokument möchte Ihnen den Eintritt in eine Kultur erleichtern, die sich wohl deutlich von dem unterscheidet, was Sie bei Ihrer Abreise erwartet hatten. Dazu sollten Sie bedenken, dass Sie nicht als Erster zu uns kommen. Die Erfahrungen Ihrer Vorgänger haben uns geholfen, diese Aufklärungsschrift so zu gestalten, dass der Kulturschock möglichst gering gehalten wird. Wir stellen immer wieder fest, dass jeder Versuch, die Vergangenheit — oder auch die Gegenwart — zu beschönigen oder zu verharmlosen, letztlich nur Schaden anrichtet; am besten ist es — das zeigt eine statistische Untersuchung von Fällen wie dem Ihren — die Fakten so offen und ehrlich darzulegen wie nur möglich.

Wir sind uns voll bewusst, dass Sie zunächst nur ungläubiges Staunen empfinden werden, dicht gefolgt von tiefem Groll. Danach werden Sie sich längere Zeit weigern, die Realität anzuerkennen.

Machen Sie sich klar, dass diese Reaktionen normal sind.

Stellen Sie sich weiterhin schon in diesem frühen Stadium darauf ein, dass früher oder später der Zeitpunkt kommt, zu dem Sie sich mit der Wahrheit abfinden und sie akzeptieren werden. Das mag Tage dauern, vielleicht auch Wochen oder gar Monate, aber von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen wird dieser Schritt immer vollzogen. Irgendwann denken Sie vielleicht an diesen Augenblick zurück und wünschen sich, Sie hätten Ihre innere Abwehr früher überwunden. Denn Sie werden erkennen, dass erst nach Abschluss dieser Phase so etwas wie Glück möglich wird.

Lassen Sie uns daher den Anpassungsprozess umgehend einleiten.

Da alle Kommunikationsverbindungen innerhalb des kolonisierten Raums dank der Fundamentalkonstante der Lichtgeschwindigkeit an eine unüberwindliche Grenze stoßen, sind Nachrichten aus anderen Sonnensystemen zwangsläufig oft um mehrere Jahrzehnte überholt. Das heißt, alles, was Sie über Yellowstone, die Hauptwelt unseres Systems wissen, basiert mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf veralteten Informationen.

Es ist richtig, dass Yellowstone mehr als zwei Jahrhunderte lang — ja, bis in die jüngste Vergangenheit — bestimmt wurde von der von zeitgenössischen Beobachtern zumeist so genannten Belle Epoque. Ein Goldenes Zeitalter ohne Beispiel in gesellschaftlicher wie in technologischer Hinsicht; ein weltanschauliches Modell, das bei allen Außenstehenden als nahezu perfekte Regierungsform galt.

Yellowstone war Ausgangspunkt für viele erfolgreiche Unternehmungen. Man gründete Tochterkolonien in anderen Sonnensystemen und rüstete ehrgeizige wissenschaftliche Expeditionen an die Grenzen des von Menschen besiedelten Weltraums aus. Yellowstone und sein Glitzerband waren Schauplatz visionärer gesellschaftlicher Experimente wie der umstrittenen, aber bahnbrechenden Projekte Calvin Sylvestes und seiner Schüler. Yellowstone war ein Nährboden für Innovationen, ein Treibhaus, in dem große Künstler, Philosophen und Wissenschaftler sich entfalten konnten. Ohne Scheu trieb man die Forschung im Bereich der neuralen Aufrüstung voran. Andere menschliche Kulturen brachten den Synthetikern nur Misstrauen entgegen, aber wir Demarchisten — bereit, die Vorzüge aller Verfahren der Bewusstseinserweiterung angstfrei zu genießen — bauten Beziehungen zu ihnen auf, die es uns erlaubten, ihre Techniken voll zu nützen. Ihre Raumschifftriebwerke ermöglichten es uns, sehr viel mehr Systeme zu besiedeln als andere Kulturen, die sich weniger funktionsfähigen Gesellschaftsmodellen verschrieben hatten.

Es war wahrhaftig eine große Zeit. Und wahrscheinlich hatten auch Sie damit gerechnet, bei Ihrer Ankunft diese Situation vorzufinden.

Doch hier müssen wir Sie leider enttäuschen.

Vor sieben Jahren wurde unser System von einer Krankheit befallen. Der genaue Übertragungsweg ist bis heute unklar, aber man ist sich nahezu sicher, dass die Seuche, vielleicht in inaktiver Form und ohne Wissen der betreffenden Besatzung, womöglich schon vor Jahren mit einem Schiff eingeschleppt wurde. Ob sich das jemals klären lässt, erscheint zweifelhaft, zu viel wurde zerstört oder geriet in Vergessenheit. Die digital gespeicherten Aufzeichnungen zur Geschichte unseres Planeten wurden zum großen Teil gelöscht oder von der Seuche zerstört. In vielen Fällen blieben nur Erinnerungen erhalten — und das menschliche Gedächtnis ist bekanntlich nicht unfehlbar.

Die Schmelzseuche hat unsere Gesellschaft bis ins Mark getroffen.

Sie wurde weder durch einen biologischen Erreger noch ein reines Software-Virus ausgelöst, sondern durch eine seltsame und unbeständige Mischform. Obwohl es nie gelungen ist, den Erreger zu isolieren und in Reinkultur zu züchten, dürfte er in seiner Urform bestimmten nanotechnischen Maschinen ähneln, vergleichbar den Molekular-Assemblern, wie wir selbst sie in der Medizintechnik verwenden. Dass sie extraterrestrischen Ursprungs sein muss, steht außer Zweifel. Ebenso klar ist, dass alle Mittel, mit denen wir bislang gegen die Seuche vorgegangen sind, allenfalls ihre Ausbreitung verlangsamen konnten. Oft genug haben unsere Eingriffe die Lage nur noch verschlimmert. Die Seuche stellt sich auf jeden Angriff ein und pervertiert unsere Waffen, um sie dann gegen uns zu verwenden. Es ist, als würde sie von einer verborgenen Intelligenz gesteuert. Wir wissen nicht, ob es sich um eine gezielte Attacke gegen die Menschheit handelt vielleicht — hatten wir auch nur ungeheures Pech.

Unseren bisherigen Erfahrungen zufolge werden Sie jetzt höchstwahrscheinlich annehmen, einem Schwindel aufgesessen zu sein. Unsere Erfahrungen zeigen weiterhin, dass es den Anpassungsprozess um einen kleinen, aber statistisch signifikanten Faktor beschleunigt, wenn wir dies bestreiten.

Dieses Dokument ist kein Schwindel.

Die Schmelzseuche existiert tatsächlich, und ihre Auswirkungen sind viel verheerender, als Sie es sich an diesem Punkt vorstellen können. Als sie zuschlug, war unsere Gesellschaft geradezu gesättigt mit Billionen von winzigen Maschinchen. Sie waren unsere Diener, sie gehorchten uns blind und ohne zu klagen, sie spendeten Leben und formten Materie, aber wir verschwendeten kaum einen Gedanken an sie. Unermüdlich durchströmten sie unser Blut. Unaufhörlich arbeiteten sie in unseren Zellen. Als Gerinnsel in unseren Gehirnen verbanden sie uns mit einem demarchie-weiten Netzwerk und ermöglichten Entscheidungen mit minimalem Zeitaufwand. Wir reisten durch virtuelle Welten, die durch direkte Manipulation der sensorischen Mechanismen des Gehirns geschaffen wurden, oder ließen unser Bewusstsein scannen und in blitzschnelle Computersysteme übertragen. Wir verschmolzen Materie und formten sie zu Gebirgen; wir schrieben Materie-Symphonien; wir ließen die Materie nach unserer Pfeife tanzen wie gezähmtes Feuer. Nur die Synthetiker waren der Gottheit noch einen Schritt näher gekommen… und es gab Stimmen, die behaupteten, wir stünden ihnen nicht viel nach.

Maschinen schufen aus Eis und rohem Fels die Stadtstaaten, die unsere Welt umkreisen, und kneteten innerhalb ihrer Biome die tote Materie so lange, bis sich daraus Leben entwickelte. Denkende Maschinen verwalteten die Stadtstaaten und vereinten die zehntausend um Yellowstone entstehenden Habitate zum Glitzerband. Maschinen machten Chasm City zu dem, was es war; Maschinen formten aus seiner amorphen Architektur eine Stadt von legendärer, phantasmagorischer Schönheit.

All das ist dahin.

Es war noch schlimmer, als Sie jetzt denken. Hätte die Seuche nur unsere Maschinen zerstört, dann hätte auch das Millionen von Menschenleben gekostet, aber das Ausmaß der Katastrophe wäre überschaubar gewesen, wir hätten uns davon erholen können. Doch die Seuche begnügte sich nicht damit, lediglich destruktiv zu wirken, sie schien geradezu künstlerische Ambitionen zu verfolgen, allerdings in einer Weise, die nur als unerhörte sadistische Perversion zu bezeichnen ist. Sie veranlasste unsere Maschinen zu einer — jedenfalls für uns — unkontrollierteren Entwicklung in Richtung auf bizarre neue Symbiosen. Unsere Gebäude verwandelten sich in alptraumhafte Schreckensvisionen, und ehe wir wussten, wie uns geschah, wurden wir von den tödlichen Transformationen mitgerissen. Die Maschinen in unseren Zellen, unserem Blut, unseren Köpfen zerrissen ihre Fesseln, verschmolzen mit uns und durchsetzten die lebende Materie. Wir wurden zu glitzernden Larvenwesen, zu einem Konglomerat aus Fleisch und Maschinen. Auch die Toten setzten ihr Wachstum fort; wenn wir sie begruben, vereinigten sie sich miteinander und mit den Gebäuden der Stadt.

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