Die Kleider lagen in dem Schränkchen. Ich sah sie mir an. Sie waren mir völlig unbekannt. Von Luxus keine Spur. Der Schnitt war schlicht, irgendwie wirkten sie handgemacht: ein schwarzer Pullover mit V-Ausschnitt, weite Hosen ohne Taschen, ein Paar weicher Schuhe, in denen man höchstens ein paar Schritte auf der Lichtung herumschlendern konnte. Alles passte wie angegossen, doch selbst das berührte mich merkwürdig, als wäre ich daran nicht gewöhnt.
Ich durchsuchte den Schrank noch weiter, in der Hoffnung, etwas von meiner persönlichen Habe zu finden, aber bis auf die Kleider war er leer. Ratlos setzte ich mich aufs Bett und starrte mürrisch die raue Wand an, bis mein Blick über die kleine Nische glitt. Nach Jahren im Kälteschlaf hatte mein Gehirn offenbar Mühe, sein chemisches Gleichgewicht wiederzufinden, und so durfte ich nun am eigenen Leibe erfahren, wie sich psychotische Ängste anfühlten. Am liebsten hätte ich mich einfach zusammengerollt und alle Sinne vor der Welt verschlossen. Was mich davor bewahrte, vollends den Verstand zu verlieren, war die innere Gewissheit, dass ich mich schon in schlimmeren Situationen befunden, dass ich Gefahren erlebt hatte, die sicher nicht weniger beängstigend waren als alles, was mein gestörtes Bewusstsein mit einer leeren Nische verbinden konnte. Trotzdem war ich noch am Leben. Beispiele wollten mir im Moment zwar nicht einfallen, aber das spielte keine große Rolle. Mir genügte zu wissen, dass die Vorfälle stattgefunden hatten, und dass ich, wenn ich jetzt versagte, einen verschütteten Teil meiner selbst verriete, der ganz und gar normal war und sich möglicherweise daran erinnern konnte.
Amelia ließ nicht lange auf sich warten.
Sie war erhitzt und so außer Atem, als wäre sie im Laufschritt das Tal oder die Schlucht heraufgekommen, die ich nach dem Aufwachen gesehen hatte. Aber sie lächelte. Die Bewegung hatte ihr offensichtlich gut getan. Sie trug ein schwarzes Nonnengewand mit Schleier, um den Hals hing eine Kette mit einem Schneeflockenanhänger. Unter der Nonnentracht schauten staubige Stiefel hervor.
»Wie sitzen die Kleider?«, fragte sie und legte die Hand auf den eiförmigen Körper des Roboters. Vielleicht suchte sie nur Halt, aber für mich sah es so aus, als wollte sie die Maschine streicheln.
»Wie für mich gemacht, danke.«
»Sind Sie da auch ganz sicher? Wir können sie jederzeit ändern lassen, Tanner. Sie müssten sie nur rasch wieder ausziehen und… nun, es ginge wirklich ganz schnell.« Sie lächelte.
»Schon gut«, sagte ich und sah sie mir genauer an. Sie war sehr blass; ich hatte noch nie jemandem mit so heller Haut gesehen. Ihre Augen waren kaum pigmentiert, und die Augenbrauen waren so fein, als wären sie mit der Tuschfeder aufgetragen.
»Wunderbar«, sagte sie. Es klang nicht restlos überzeugt. »Sind inzwischen noch einige Erinnerungen zurückgekehrt?«
»Ich glaube zu wissen, wo ich herkomme. Das ist vermutlich ein Anfang.«
»Sie dürfen nicht versuchen, etwas zu erzwingen. Duscha — das ist unsere Neurologin — sagt, Sie würden Ihr Gedächtnis bald wiederfinden, aber Sie sollten sich keine Sorgen machen, wenn es ein Weilchen dauert.«
Amelia setzte sich ans Fußende des Bettes, in dem ich bis vor ein paar Minuten geschlafen hatte. Ich hatte die Decke umgedreht, um die Blutspritzer zu verbergen. Aus irgendeinem Grund schämte ich mich der Wunde in meiner Handfläche und wollte um jeden Preis vermeiden, dass Amelia sie bemerkte.
»Wenn ich ehrlich sein soll, glaube ich, es könnte etwas länger dauern.«
»Aber Sie erinnern sich doch immerhin, dass Sie von Ultras hierher gebracht wurden. Das ist, wie bereits erwähnt, längst nicht bei allen der Fall. Und Sie wissen auch, woher Sie kommen?«
»Ich denke, von Sky’s Edge.«
»Ja. System 61 Cygni-A.«
Ich nickte. »Nur nennen wir unsere Sonne den Schwan. Das klingt nicht so bombastisch.«
»Ja, das habe ich schon öfter gehört. Ich sollte mir solche Details wirklich einprägen, aber wir haben hier Menschen von den verschiedensten Welten, da kommt man manchmal wirklich ganz durcheinander und weiß nicht mehr, wo einem der Kopf steht.«
»Das kann ich Ihnen nachfühlen, ich weiß auch noch immer nicht genau, wo wir hier sind. So lange mein Gedächtnis nicht funktioniert, kann ich nicht sicher sein, aber ich glaube, ich habe noch nie vom… wie sagten Sie noch?«
»Eisbettelorden.«
»Der Name kommt mir völlig unbekannt vor.«
»Verständlich. Ich glaube nicht, dass der Orden im System von Sky’s Edge tätig ist. Wir lassen uns nur dort nieder, wo größere Verkehrsbewegungen in und aus einem System stattfinden.«
Ich wollte fragen, in welchem System wir uns hier befanden, aber das würde sie früher oder später wohl ohnehin erwähnen.
»Ich glaube, Sie müssen mir noch etwas mehr erzählen, Amelia.«
»Aber gern. Sie müssen nur entschuldigen, wenn es sich wie auswendig gelernt anhört. Sie sind leider nicht der Erste, dem ich das alles erklären muss — und Sie werden auch nicht der Letzte sein.«
Der Orden der Eisbettler, so begann sie, war vor etwa einhundertfünfzig Jahren gegründet worden — in der Mitte des vierundzwanzigsten Jahrhunderts. Etwa um diese Zeit hatte sich die bis dahin ausschließlich von Staatsregierungen und Supermächten kontrollierte interstellare Raumfahrt verselbständigt und Weltraumflüge waren fast schon alltäglich geworden. Auch die Ultras entwickelten sich allmählich zu einer eigenen Menschheitsgruppe — sie reisten nicht nur mit ihren Raumschiffen, sondern verbrachten ihr ganzes Leben an Bord und hatten dank der Zeit-Dilatation eine weitaus höhere Lebenserwartung als normal. Zwar beförderten sie weiterhin zahlende Passagiere von einem System zum anderen, aber der Service auf diesen Flügen ließ bisweilen durchaus zu wünschen übrig. Manchmal verpflichteten sie sich, jemanden an ein bestimmtes Ziel zu bringen, flogen dann aber in ein ganz anderes System und setzten ihre Passagiere viele Jahre von ihrem Bestimmungsort entfernt einfach aus. Manchmal waren ihre Kälteschlafeinrichtungen so veraltet oder schlecht gewartet, dass die Passagiere bei der Ankunft drastisch gealtert oder mit radikal gelöschtem Bewusstsein aufwachten.
Solche Qualitätsmängel waren die Nische, die der Eisbettelorden für sich entdeckte. Er gründete Niederlassungen in Dutzenden von Systemen und nahm sich derjenigen Schläfer an, deren Reanimation nicht ganz so reibungslos vonstatten gegangen war, wie man es erwartet hätte. Er kümmerte sich nicht nur um Raumschiffpassagiere, zu seinen Schutzbefohlenen zählten auch viele Menschen, die Jahrzehnte lang in Kryo-Krypten gelegen hatten, um dort Phasen wirtschaftlicher Rezession oder politisch unruhige Zeiten zu verschlafen. Wenn sie erwachten, waren ihre Ersparnisse oft aufgezehrt, ihre persönliche Habe beschlagnahmt und ihr Erinnerungsvermögen gestört.
»Und jetzt«, sagte ich, »müssen Sie mir nur noch sagen, wo der Haken ist.«
»Eines möchte ich gleich zu Anfang ganz deutlich machen«, sagte Amelia. »Es gibt keinen Haken. Wir betreuen Sie so lange, bis Sie gesund genug sind, um uns verlassen zu können. Wenn Sie früher gehen wollen, werden wir Sie nicht aufhalten — und wenn Sie länger bleiben wollen, können wir auf den Feldern immer ein zusätzliches Paar Hände gebrauchen. Nach Ihrer Abreise aus dem Hospiz entstehen Ihnen keinerlei Verpflichtungen, und wenn Sie nicht wollen, werden Sie nie wieder von uns hören.«
»Und womit finanzieren Sie dann solche Einrichtungen wie die hier?«
»Ach, irgendwie kommen wir zurecht. Viele unserer Schützlinge geben freiwillig eine Spende, wenn sie geheilt sind — aber das soll nicht heißen, dass wir etwas dergleichen erwarten. Unsere laufenden Kosten sind sehr niedrig, und wir brauchten uns auch nicht zu verschulden, um Idlewild bauen zu können.«
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