Dennoch hatte es sich gelohnt.
»Die Erwachsenen können sie nicht leiden«, hatte Constanza gesagt, als sie vor dem Becken mit den Delphinen standen. »Ihnen wäre es am liebsten, sie würden gar nicht existieren.«
Die Ablaufgitter unter ihren Füßen waren nass und schmierig. Das Becken, ein Glaskasten mit hohen Wänden, der zwanzig, dreißig Meter weit in den dunklen Frachtraum hinein reichte, erstrahlte in einem fahlen, bläulichen Licht. Sky spähte angestrengt in die türkisgrünen Tiefen. In der Ferne sah er die Delphine, graue Schatten, zielstrebig durch das Wasser gleiten, sah ihre Umrisse im Spiel des Lichts verschwimmen und wieder erscheinen. Sie sahen eigentlich nicht wie Tiere aus, eher wie Seifenfiguren; glitschig und nicht ganz real.
Sky hatte die Hand gegen das Glas gedrückt. »Was haben die Erwachsenen denn gegen sie?«
Constanzas Antwort klang zurückhaltend. »Irgendetwas stimmt nicht mit ihnen, Sky. Dies sind nicht mehr dieselben Delphine, die auf dem Schiff waren, als es den Merkur-Orbit verließ, sondern deren Enkel oder ihre Urenkel — so genau weiß ich das nicht. Sie haben nie etwas anderes kennen gelernt als dieses Becken, und bei ihren Eltern war das schon genauso.«
»Ich kenne auch nichts anderes als dieses Schiff.«
»Aber du bist kein Delphin; du hast nie erwartet, in einem Ozean schwimmen zu können.« Constanza verstummte. Eines der Tiere verließ seine Gefährten, die sich am anderen Ende des Beckens um eine Reihe von Fernsehschirmen mit verschiedenen Bildern drängten, und kam auf sie zugeschwommen. Sobald es das klare Wasser unmittelbar hinter dem Glas erreichte, entwickelte es von einem Augenblick zum anderen so etwas wie Persönlichkeit; aus dem nahezu durchsichtigen Schatten wurde mit einem Schlag eine große, potenziell gefährliche Muskelmaschine. Sky hatte im Kinderzimmer Fotos von Delphinen gesehen und fand, dass dieses Tier irgendwie davon abwich: der Schädel war mit einem Netz feinster Linien überzogen, und die geometrisch geformten Höcker und Wülste im Umkreis der Augen verrieten, wie viele harte Metall- und Keramikimplantate im Fleisch des großen Meeressäugers eingebettet waren.
»Hallo«, sagte Sky und klopfte an das Glas.
»Das ist Sleek«, sagte Constanza. »Glaube ich jedenfalls. Sleek ist einer von den Ältesten.«
Der Delphin sah Sky aufmerksam an. Das breite Maul vermittelte den Eindruck von Gutmütigkeit, aber auch von Schwachsinn. Dann brachte er sich mit einer blitzschnellen Drehung direkt vor Sky in Stellung.
Der Junge spürte, wie das Glas lautlos erzitterte. Vor Sleeks Kopf entstanden seltsam geschwungene Linien aus sprudelnden Luftblasen. Zunächst wirkten sie eher zufällig — wie die ersten Pinselstriche eines Künstlers —, doch bald vereinigten sie sich zu einer erkennbaren Form. Sleek zuckte so eifrig mit dem Kopf, als würde er von Stromstößen geschüttelt. Das Schauspiel dauerte nur wenige Sekunden, doch was der Delphin gezeichnet hatte, war eindeutig ein dreidimensionales Gesicht. Es war nicht detailliert ausgeführt, dennoch wusste Sky, dass es mehr war als nur eine Ausgeburt seiner Phantasie, ausgelöst durch ein paar Luftblasen im Wasser. Dafür war es zu symmetrisch, zu wohlproportioniert. Es drückte sogar Gefühle aus, aber wahrscheinlich nur Abscheu oder Angst.
Als Sleek sein Werk vollendet hatte, schlug er verächtlich mit dem Schwanz und schwamm davon.
»Sie hassen uns auch«, sagte Constanza. »Aber das kann man ihnen eigentlich nicht verdenken.«
»Warum hat Sleek das gemacht? Und wie?«
»Sleek hat Maschinen in seiner Melone — dem Höcker zwischen seinen Augen. Sie werden den Tieren implantiert, wenn sie noch ganz klein sind. Normalerweise werden mit der Melone Laute erzeugt, aber mit den Maschinen kann der Schall so präzise gebündelt werden, dass die Tiere mit Luftblasen zeichnen können. Im Wasser sind außerdem kleine Lebewesen — Mikroorganismen —, die aufleuchten, wenn der Schall sie trifft. Als die Menschen die Delphine machten, wollten sie sich mit ihnen verständigen können.«
»Dann müssten ihnen die Delphine doch eigentlich dankbar sein.«
»Vielleicht wären sie das auch — wenn sie nicht immer neue Operationen über sich ergehen lassen müssten. Und wenn sie anderswo schwimmen könnten als in diesem grässlichen Becken.«
»Schon, aber wenn wir erst Journey’s End erreichen…«
Constanza sah ihn traurig an. »Dann ist es zu spät, Sky. Zumindest für diese Tiere hier, denn die sind dann nicht mehr am Leben. Wir beide sind bis dahin erwachsen und unsere Eltern sind alt oder schon gestorben.«
Der Delphin kam in Begleitung eines zweiten, etwas kleineren zurück. Zu zweit begannen sie, ein Bild ins Wasser zu zeichnen. Es sah aus wie ein Mann, der von Haien zerrissen wurde, aber Sky wandte sich ab, bevor er es genau erkennen konnte.
Constanza fuhr fort: »Sie wären sowieso nicht mehr zu retten, Sky.«
Sky wandte sich wieder dem Becken zu. »Mir gefallen sie trotzdem. Sie sind immer noch schön. Sogar Sleek.«
»Sie sind böse, Sky. Psychisch gestört, wie mein Vater sich ausdrückt.« Sie fällte das Urteil mit einem leichten Zögern, das nicht ganz überzeugte, als schämte sie sich ihrer flinken Zunge.
»Das ist mir egal. Ich werde sie trotzdem wieder besuchen.« Sky klopfte an das Glas und sagte laut: »Ich komme wieder, Sleek. Ich mag dich.«
Constanza klopfte ihm mit mütterlicher Geste auf die Schulter, obwohl sie kaum größer war als er. »Das spielt keine Rolle.«
»Ich komme trotzdem.«
Das ebenso für ihn selbst wie für Constanza bestimmte Versprechen war aufrichtig gewesen. Er wollte die Delphine verstehen, mit ihnen kommunizieren, irgendetwas tun, um ihr Elend zu lindern. Er dachte an die weiten, glänzenden Ozeane auf Journey’s End — dass es dort Ozeane gab, hatte ihm Clown erzählt, sein Freund im Kinderzimmer — und stellte sich vor, die Delphine würden plötzlich aus diesem dunklen, düsteren Loch befreit. Im Geiste sah er sie mit den Menschen schwimmen; sah sie heitere Schallbilder ins Wasser zeichnen, während die Erinnerung an die Zeit an Bord der Santiago verblasste wie ein böser Traum.
»Komm«, sagte Constanza. »Wir müssen gehen, Sky.«
»Du bringst mich doch wieder her, nicht wahr?«
»Natürlich, wenn du das unbedingt willst.«
Die beiden hatten das Delphinarium verlassen und sich auf verschlungenen Pfaden den Rückweg durch die dunklen Tiefen der Santiago gesucht wie durch einen Zauberwald. Ein paarmal begegnete ihnen ein Erwachsener, aber Constanzas gebärdete sich so selbstbewusst, dass niemand sie aufhielt — bis sie sich wieder wohlbehalten in dem kleinen Bereich des Schiffes befanden, den Sky als vertrautes Territorium betrachtete.
Dort hatte sein Vater sie gefunden.
Titus Haussmann war ein strenger, aber gütiger Vertreter der lebenden Besatzung der Santiago; ein Mann mit Autorität, der aber mehr geachtet als gefürchtet wurde. Als er sich nun vor den beiden Kindern aufbaute, spürte Sky, dass er nicht wirklich zornig war; nur erleichtert.
»Deine Mutter hat sich entsetzliche Sorgen gemacht«, sagte sein Vater. »Constanza — ich bin sehr enttäuscht von dir. Ich hatte dich immer für ein vernünftiges Mädchen gehalten.«
»Er wollte nur die Delphine sehen.«
»Ach, es ging also um die Delphine?« Die Frage klang überrascht, als hätte Skys Vater eigentlich eine andere Antwort erwartet. »Ich dachte, du interessierst dich für die Toten, Sky — für unsere geliebten Momios.«
Das ist schon wahr, dachte Sky — aber immer eins nach dem anderen.
»Und jetzt bist du traurig«, fuhr sein Vater fort. »Weil sie nicht so waren, wie du sie dir vorgestellt hattest, richtig? Mir tun sie auch Leid. Sleek und die anderen sind krank im Kopf. Es wäre gnädiger, sie alle einzuschläfern, stattdessen lässt man sie weiterhin Junge bekommen, und jede Generation ist…«
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